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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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umschreibt, sondern einen und denselben Gegenstand von verschiedenen pgo_193.002
Seiten beleuchtet und jede seiner Eigenschaften durch ein neues Bild verherrlicht. pgo_193.003
Diese Häufung ist prägnanter und nicht so ermüdend, im pgo_193.004
Gegentheil für eine warme und farbenreiche Schilderung geeignet. Wir pgo_193.005
erinnern an die Bilder, mit denen der Sänger des Hohen Liedes jede pgo_193.006
Schönheit seiner gefeierten Braut preist, oder mit denen Lord Byron pgo_193.007
den schlummernden Don Juan schildert, über den sich seine liebende pgo_193.008
Haidee neigt. So sagt auch Ossian in seiner Darthula:

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Dein Antlitz glich dem Lichte des Morgens, pgo_193.010
Dein Haar dem Fittig des Raben! pgo_193.011
Deine Seele war so edel und mild, pgo_193.012
Wie die Stunde der sinkenden Sonne! pgo_193.013
Deine Worte glichen dem Lüftchen im Schilf, pgo_193.014
Gleich dem flüsternden Strome von Lora. pgo_193.015
Doch wenn das Tosen der Schlacht sich erhob, pgo_193.016
Warst du wie ein stürmisches Meer.

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Unter Katachresen versteht man Verstöße gegen die Einheit des pgo_193.018
Bildes,
indem der Dichter entweder aus einem Bild in den eigentlichen pgo_193.019
Ausdruck oder aus einem Bild in das andere verfällt; ja man hat sogar pgo_193.020
die Anhäufung ungleichartiger Bilder, die von einem Gegenstand in pgo_193.021
einem oder in mehreren zusammenhängenden Sätzen gebraucht werden, pgo_193.022
für einen solchen Verstoß erklärt. Die Katachresen sind Sünden pgo_193.023
gegen die Korrektheit des bildlichen Ausdruckes, gegen eine Forderung pgo_193.024
der Kunst, welche stets höheren Forderungen nachstehen muß. Einer pgo_193.025
faden und nüchternen Verstandeskritik bieten sie die willkommensten pgo_193.026
Handhaben, besonders um sich den Versuchen der Gegenwart gegenüber pgo_193.027
eine säuberliche Autorität anzueignen. Jn der That beruhen die meisten pgo_193.028
Katachresen nur auf einer kühneren Jdeeenassociation, welcher die erregte pgo_193.029
Phantasie mit Freuden folgt; sie sind Elisionen der Phantasie, und pgo_193.030
wie die grammatischen und syntaktischen dem kühneren Style der pgo_193.031
Dichtung unentbehrlich. Gerade der höhere, bewegte Odenschwung, der pgo_193.032
Ausdruck einer großen Leidenschaft in der Tragödie, kann durch solche pgo_193.033
Katachresen eine hinreißende Wirkung erzielen! Oder sollte es ein pgo_193.034
Zufall sein, daß die großen Dichter aller Zeiten an ihnen so reich sind? pgo_193.035
Sollten sie nur einer mäkelnden Kritik in die Hände gearbeitet haben? pgo_193.036
Und waren die Kritiker des humanistischen Zeitalters nicht weiser, als ihre

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/215>, abgerufen am 29.03.2024.