Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_195.001
bei deren Gebrauch selbst die Prosa sich fortwährender Katachresen schuldig pgo_195.002
macht!

pgo_195.003
Die Grenzen sind also hier bei weitem enger zu stecken, wenn man pgo_195.004
sich nicht die müßige Freude bereiten will, Regeln aufzustellen, welche pgo_195.005
durch alle großen Dichter fortwährend übertreten worden sind. Wir pgo_195.006
möchten zunächst zwischen tropischen Wendungen und ausgeführten pgo_195.007
Bildern
unterscheiden, mögen es nun Gleichnisse oder Allegorieen pgo_195.008
sein. Bei kurz hingeworfenen tropischen Wendungen halten wir die pgo_195.009
Katachresen für erlaubt und den Dissonanzen in der Musik vergleichbar. pgo_195.010
Es sind Ausweichungen der Phantasie, die aber bald wieder in die richtige pgo_195.011
Bahn zurücklenkt und durch jene kleinen Ausschreitungen, die ebensoviele pgo_195.012
Kühnheiten sind, angenehm erregt wird. Zu Hülfe kommt hier pgo_195.013
jener fortdauernde Verwandlungsproceß der Sprache selbst, welche pgo_195.014
uneigentliche Ausdrücke in eigentliche umschafft, bei denen die ursprüngliche pgo_195.015
bildliche Bedeutung verblaßt. Der Sprachgebrauch arbeitet von pgo_195.016
selbst auf diese Vergeistigung des Ausdruckes hin, und es bedarf oft einer pgo_195.017
gewaltsamen Besinnung der Phantasie, um auf seine ursprüngliche Bildlichkeit pgo_195.018
zurückzugehn und vielleicht eine durch dieselbe hervorgerufene pgo_195.019
Katachrese zu entdecken. Dagegen hat das weiter ausgeführte Bild pgo_195.020
den selbstständigen Reiz eines dichterischen Gemäldes; hier kommt es auf pgo_195.021
die harmonische Zusammenstimmung der einzelnen Züge an, und hier pgo_195.022
würde die Katachrese ein entschiedener Fehler sein, indem sie die Phantasie pgo_195.023
gewaltsam und andauernd aus einem Bilde herausreißt und den pgo_195.024
Rahmen des Gemäldes sprengt. So halten wir die Schlußverse in pgo_195.025
Goethe's "Tasso" für eine fehlerhafte Katachrese:

pgo_195.026
O edler Mann, Du stehest fest und still, pgo_195.027
Jch schaue nur die sturmbewegte Welle, pgo_195.028
Allein bedenk' und überhebe nicht pgo_195.029
Dich Deiner Kraft! Die mächtige Natur, pgo_195.030
Die diesen Felsen gründete, hat auch pgo_195.031
Der Welle die Beweglichkeit gegeben. pgo_195.032
Sie sendet ihren Sturm, die Welle flieht pgo_195.033
Und schwankt und schwillt und beugt sich schäumend über. pgo_195.034
Jn dieser Woge spiegelte so schön pgo_195.035
Die Sonne sich, es ruhten die Gestirne pgo_195.036
An dieser Brust, die zärtlich sich bewegte,

pgo_195.001
bei deren Gebrauch selbst die Prosa sich fortwährender Katachresen schuldig pgo_195.002
macht!

pgo_195.003
Die Grenzen sind also hier bei weitem enger zu stecken, wenn man pgo_195.004
sich nicht die müßige Freude bereiten will, Regeln aufzustellen, welche pgo_195.005
durch alle großen Dichter fortwährend übertreten worden sind. Wir pgo_195.006
möchten zunächst zwischen tropischen Wendungen und ausgeführten pgo_195.007
Bildern
unterscheiden, mögen es nun Gleichnisse oder Allegorieen pgo_195.008
sein. Bei kurz hingeworfenen tropischen Wendungen halten wir die pgo_195.009
Katachresen für erlaubt und den Dissonanzen in der Musik vergleichbar. pgo_195.010
Es sind Ausweichungen der Phantasie, die aber bald wieder in die richtige pgo_195.011
Bahn zurücklenkt und durch jene kleinen Ausschreitungen, die ebensoviele pgo_195.012
Kühnheiten sind, angenehm erregt wird. Zu Hülfe kommt hier pgo_195.013
jener fortdauernde Verwandlungsproceß der Sprache selbst, welche pgo_195.014
uneigentliche Ausdrücke in eigentliche umschafft, bei denen die ursprüngliche pgo_195.015
bildliche Bedeutung verblaßt. Der Sprachgebrauch arbeitet von pgo_195.016
selbst auf diese Vergeistigung des Ausdruckes hin, und es bedarf oft einer pgo_195.017
gewaltsamen Besinnung der Phantasie, um auf seine ursprüngliche Bildlichkeit pgo_195.018
zurückzugehn und vielleicht eine durch dieselbe hervorgerufene pgo_195.019
Katachrese zu entdecken. Dagegen hat das weiter ausgeführte Bild pgo_195.020
den selbstständigen Reiz eines dichterischen Gemäldes; hier kommt es auf pgo_195.021
die harmonische Zusammenstimmung der einzelnen Züge an, und hier pgo_195.022
würde die Katachrese ein entschiedener Fehler sein, indem sie die Phantasie pgo_195.023
gewaltsam und andauernd aus einem Bilde herausreißt und den pgo_195.024
Rahmen des Gemäldes sprengt. So halten wir die Schlußverse in pgo_195.025
Goethe's „Tasso“ für eine fehlerhafte Katachrese:

pgo_195.026
O edler Mann, Du stehest fest und still, pgo_195.027
Jch schaue nur die sturmbewegte Welle, pgo_195.028
Allein bedenk' und überhebe nicht pgo_195.029
Dich Deiner Kraft! Die mächtige Natur, pgo_195.030
Die diesen Felsen gründete, hat auch pgo_195.031
Der Welle die Beweglichkeit gegeben. pgo_195.032
Sie sendet ihren Sturm, die Welle flieht pgo_195.033
Und schwankt und schwillt und beugt sich schäumend über. pgo_195.034
Jn dieser Woge spiegelte so schön pgo_195.035
Die Sonne sich, es ruhten die Gestirne pgo_195.036
An dieser Brust, die zärtlich sich bewegte,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0217" n="195"/><lb n="pgo_195.001"/>
bei deren Gebrauch selbst die Prosa sich fortwährender Katachresen schuldig <lb n="pgo_195.002"/>
macht!</p>
              <p><lb n="pgo_195.003"/>
Die Grenzen sind also hier bei weitem enger zu stecken, wenn man <lb n="pgo_195.004"/>
sich nicht die müßige Freude bereiten will, Regeln aufzustellen, welche <lb n="pgo_195.005"/>
durch alle großen Dichter fortwährend übertreten worden sind. Wir <lb n="pgo_195.006"/>
möchten zunächst zwischen <hi rendition="#g">tropischen Wendungen</hi> und <hi rendition="#g">ausgeführten <lb n="pgo_195.007"/>
Bildern</hi> unterscheiden, mögen es nun Gleichnisse oder Allegorieen <lb n="pgo_195.008"/>
sein. Bei kurz hingeworfenen <hi rendition="#g">tropischen Wendungen</hi> halten wir die <lb n="pgo_195.009"/>
Katachresen für erlaubt und den Dissonanzen in der Musik vergleichbar. <lb n="pgo_195.010"/>
Es sind Ausweichungen der Phantasie, die aber bald wieder in die richtige <lb n="pgo_195.011"/>
Bahn zurücklenkt und durch jene kleinen Ausschreitungen, die ebensoviele <lb n="pgo_195.012"/>
Kühnheiten sind, angenehm erregt wird. Zu Hülfe kommt hier <lb n="pgo_195.013"/>
jener fortdauernde Verwandlungsproceß der Sprache selbst, welche <lb n="pgo_195.014"/>
uneigentliche Ausdrücke in eigentliche umschafft, bei denen die ursprüngliche <lb n="pgo_195.015"/>
bildliche Bedeutung verblaßt. Der Sprachgebrauch arbeitet von <lb n="pgo_195.016"/>
selbst auf diese Vergeistigung des Ausdruckes hin, und es bedarf oft einer <lb n="pgo_195.017"/>
gewaltsamen Besinnung der Phantasie, um auf seine ursprüngliche Bildlichkeit <lb n="pgo_195.018"/>
zurückzugehn und vielleicht eine durch dieselbe hervorgerufene <lb n="pgo_195.019"/>
Katachrese zu entdecken. Dagegen hat das <hi rendition="#g">weiter ausgeführte Bild</hi> <lb n="pgo_195.020"/>
den selbstständigen Reiz eines dichterischen Gemäldes; hier kommt es auf <lb n="pgo_195.021"/>
die harmonische Zusammenstimmung der einzelnen Züge an, und hier <lb n="pgo_195.022"/>
würde die Katachrese ein entschiedener Fehler sein, indem sie die Phantasie <lb n="pgo_195.023"/>
gewaltsam und andauernd aus einem Bilde herausreißt und den <lb n="pgo_195.024"/>
Rahmen des Gemäldes sprengt. So halten wir die Schlußverse in <lb n="pgo_195.025"/>
Goethe's &#x201E;Tasso&#x201C; für eine fehlerhafte Katachrese:</p>
              <lb n="pgo_195.026"/>
              <lg>
                <l>O edler Mann, Du stehest fest und still,</l>
                <lb n="pgo_195.027"/>
                <l>Jch schaue nur die sturmbewegte Welle,</l>
                <lb n="pgo_195.028"/>
                <l>Allein bedenk' und überhebe nicht</l>
                <lb n="pgo_195.029"/>
                <l>Dich Deiner Kraft! Die mächtige Natur,</l>
                <lb n="pgo_195.030"/>
                <l>Die diesen Felsen gründete, hat auch</l>
                <lb n="pgo_195.031"/>
                <l>Der Welle die Beweglichkeit gegeben.</l>
                <lb n="pgo_195.032"/>
                <l>Sie sendet ihren Sturm, die Welle flieht</l>
                <lb n="pgo_195.033"/>
                <l>Und schwankt und schwillt und beugt sich schäumend über.</l>
                <lb n="pgo_195.034"/>
                <l>Jn dieser Woge spiegelte so schön</l>
                <lb n="pgo_195.035"/>
                <l>Die Sonne sich, es ruhten die Gestirne</l>
                <lb n="pgo_195.036"/>
                <l>An dieser Brust, die zärtlich sich bewegte,</l>
              </lg>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0217] pgo_195.001 bei deren Gebrauch selbst die Prosa sich fortwährender Katachresen schuldig pgo_195.002 macht! pgo_195.003 Die Grenzen sind also hier bei weitem enger zu stecken, wenn man pgo_195.004 sich nicht die müßige Freude bereiten will, Regeln aufzustellen, welche pgo_195.005 durch alle großen Dichter fortwährend übertreten worden sind. Wir pgo_195.006 möchten zunächst zwischen tropischen Wendungen und ausgeführten pgo_195.007 Bildern unterscheiden, mögen es nun Gleichnisse oder Allegorieen pgo_195.008 sein. Bei kurz hingeworfenen tropischen Wendungen halten wir die pgo_195.009 Katachresen für erlaubt und den Dissonanzen in der Musik vergleichbar. pgo_195.010 Es sind Ausweichungen der Phantasie, die aber bald wieder in die richtige pgo_195.011 Bahn zurücklenkt und durch jene kleinen Ausschreitungen, die ebensoviele pgo_195.012 Kühnheiten sind, angenehm erregt wird. Zu Hülfe kommt hier pgo_195.013 jener fortdauernde Verwandlungsproceß der Sprache selbst, welche pgo_195.014 uneigentliche Ausdrücke in eigentliche umschafft, bei denen die ursprüngliche pgo_195.015 bildliche Bedeutung verblaßt. Der Sprachgebrauch arbeitet von pgo_195.016 selbst auf diese Vergeistigung des Ausdruckes hin, und es bedarf oft einer pgo_195.017 gewaltsamen Besinnung der Phantasie, um auf seine ursprüngliche Bildlichkeit pgo_195.018 zurückzugehn und vielleicht eine durch dieselbe hervorgerufene pgo_195.019 Katachrese zu entdecken. Dagegen hat das weiter ausgeführte Bild pgo_195.020 den selbstständigen Reiz eines dichterischen Gemäldes; hier kommt es auf pgo_195.021 die harmonische Zusammenstimmung der einzelnen Züge an, und hier pgo_195.022 würde die Katachrese ein entschiedener Fehler sein, indem sie die Phantasie pgo_195.023 gewaltsam und andauernd aus einem Bilde herausreißt und den pgo_195.024 Rahmen des Gemäldes sprengt. So halten wir die Schlußverse in pgo_195.025 Goethe's „Tasso“ für eine fehlerhafte Katachrese: pgo_195.026 O edler Mann, Du stehest fest und still, pgo_195.027 Jch schaue nur die sturmbewegte Welle, pgo_195.028 Allein bedenk' und überhebe nicht pgo_195.029 Dich Deiner Kraft! Die mächtige Natur, pgo_195.030 Die diesen Felsen gründete, hat auch pgo_195.031 Der Welle die Beweglichkeit gegeben. pgo_195.032 Sie sendet ihren Sturm, die Welle flieht pgo_195.033 Und schwankt und schwillt und beugt sich schäumend über. pgo_195.034 Jn dieser Woge spiegelte so schön pgo_195.035 Die Sonne sich, es ruhten die Gestirne pgo_195.036 An dieser Brust, die zärtlich sich bewegte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/217
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/217>, abgerufen am 24.04.2024.