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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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zu den Katachresen gerechnet. Solche Katachresen sind oft eine leicht zu vermeidende pgo_197.002
Jnkorrektheit. Wenn ich z. B. sage: die Säule des Staates pgo_197.003
nimmt Abschied,
so ist dies eine Katachrese. Setz' ich aber das pgo_197.004
Bild als Apposition, sag' ich: dieser Held, die Säule des Staates, pgo_197.005
nimmt Abschied, so ist die Katachrese vermieden. Schon aus diesem pgo_197.006
einen Beispiel sieht man, das diese Katachresen meistens nur grammatische pgo_197.007
Licenzen sind, welche durch eine kleine Ergänzung der Phantasie gerechtfertigt pgo_197.008
werden.

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3) Wichtiger, als diese Vermischungen der Bilder, scheint uns der pgo_197.010
Fehler in ihrer Anwendung, der gegen die bestimmten dichterischen Gattungen pgo_197.011
verstößt. Eine kurze Metapher im Epos, ein ausgeführtes pgo_197.012
Gleichniß, eine breit ausgesprochene Allegorie im Drama, ein allzuschwunghaftes pgo_197.013
Bild im Liede, eine triviale Vergleichung in der Ode pgo_197.014
scheinen uns Verstöße, welche bei häufiger Wiederkehr den ganzen Organismus pgo_197.015
des Kunstwerkes gefährden. So sind die Bilder in Goethe's pgo_197.016
Dramen meistens episch ausgeführt und legen mehr als alles Andere für pgo_197.017
Goethe's vorzugsweise epischen Styl und seine geringere Befähigung für pgo_197.018
das Drama Zeugniß ab. Man braucht sie nur mit Shakespeare's pgo_197.019
Metaphern zu vergleichen, um sich davon zu überzeugen. Wir haben pgo_197.020
schon oben das episch ausgeführte Schlußbild aus Tasso angeführt, wir pgo_197.021
könnten noch mehrere Gleichnisse aus der "Jphigenie" zum Beleg citiren. pgo_197.022
Der Dichter kann es nicht unterlassen, Nebenbestimmungen, die episch pgo_197.023
hemmend sind, und bei denen die dramatisch schlagende Vergleichung aufhört, pgo_197.024
mit in das Bild aufzunehmen z. B.

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Denn wie die Fluth, mit schnellem Strome wachsend, pgo_197.026
Die Felsen überspült, die in dem Sand pgo_197.027
Am Ufer liegen: so bedeckte ganz pgo_197.028
Ein Freudenstrom mein Jnnerstes.

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Wie charakteristisch ist nicht der Zusatz, aber wie undramatisch die pgo_197.030
homerische Vergleichungsweise! Umgekehrt geben Ossian's oft kurze und pgo_197.031
stimmungsvolle Metaphern seinen epischen Gedichten einen lyrischen Beigeschmack, pgo_197.032
obgleich es ihm nicht an zahlreichen ausgeführten Gleichnissen pgo_197.033
fehlt.

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Ein Freudenstrom mein Jnnerstes.

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Wie charakteristisch ist nicht der Zusatz, aber wie undramatisch die pgo_197.030
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[197/0219] pgo_197.001 zu den Katachresen gerechnet. Solche Katachresen sind oft eine leicht zu vermeidende pgo_197.002 Jnkorrektheit. Wenn ich z. B. sage: die Säule des Staates pgo_197.003 nimmt Abschied, so ist dies eine Katachrese. Setz' ich aber das pgo_197.004 Bild als Apposition, sag' ich: dieser Held, die Säule des Staates, pgo_197.005 nimmt Abschied, so ist die Katachrese vermieden. Schon aus diesem pgo_197.006 einen Beispiel sieht man, das diese Katachresen meistens nur grammatische pgo_197.007 Licenzen sind, welche durch eine kleine Ergänzung der Phantasie gerechtfertigt pgo_197.008 werden. pgo_197.009 3) Wichtiger, als diese Vermischungen der Bilder, scheint uns der pgo_197.010 Fehler in ihrer Anwendung, der gegen die bestimmten dichterischen Gattungen pgo_197.011 verstößt. Eine kurze Metapher im Epos, ein ausgeführtes pgo_197.012 Gleichniß, eine breit ausgesprochene Allegorie im Drama, ein allzuschwunghaftes pgo_197.013 Bild im Liede, eine triviale Vergleichung in der Ode pgo_197.014 scheinen uns Verstöße, welche bei häufiger Wiederkehr den ganzen Organismus pgo_197.015 des Kunstwerkes gefährden. So sind die Bilder in Goethe's pgo_197.016 Dramen meistens episch ausgeführt und legen mehr als alles Andere für pgo_197.017 Goethe's vorzugsweise epischen Styl und seine geringere Befähigung für pgo_197.018 das Drama Zeugniß ab. Man braucht sie nur mit Shakespeare's pgo_197.019 Metaphern zu vergleichen, um sich davon zu überzeugen. Wir haben pgo_197.020 schon oben das episch ausgeführte Schlußbild aus Tasso angeführt, wir pgo_197.021 könnten noch mehrere Gleichnisse aus der „Jphigenie“ zum Beleg citiren. pgo_197.022 Der Dichter kann es nicht unterlassen, Nebenbestimmungen, die episch pgo_197.023 hemmend sind, und bei denen die dramatisch schlagende Vergleichung aufhört, pgo_197.024 mit in das Bild aufzunehmen z. B. pgo_197.025 Denn wie die Fluth, mit schnellem Strome wachsend, pgo_197.026 Die Felsen überspült, die in dem Sand pgo_197.027 Am Ufer liegen: so bedeckte ganz pgo_197.028 Ein Freudenstrom mein Jnnerstes. pgo_197.029 Wie charakteristisch ist nicht der Zusatz, aber wie undramatisch die pgo_197.030 homerische Vergleichungsweise! Umgekehrt geben Ossian's oft kurze und pgo_197.031 stimmungsvolle Metaphern seinen epischen Gedichten einen lyrischen Beigeschmack, pgo_197.032 obgleich es ihm nicht an zahlreichen ausgeführten Gleichnissen pgo_197.033 fehlt.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/219>, abgerufen am 25.04.2024.