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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Träumet, wer von Haß entbrennt, pgo_212.002
Kurz, auf diesem Erdenballe pgo_212.003
Träumen, was sie leben, alle, pgo_212.004
Ob es Keiner gleich erkennt.
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Calderon (nach Gries).

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Das folgende Beispiel zeigt dagegen seinen für die Sentenzenfülle pgo_212.007
geeigneten Charakter:

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Was ist Leben? Raserei! pgo_212.009
Was ist Leben? Hohler Schaum! pgo_212.010
Ein Gedicht, ein Schatten kaum! pgo_212.011
Wenig kann das Glück uns geben, pgo_212.012
Denn ein Traum ist alles Leben, pgo_212.013
Und die Träume selbst sind Traum.
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Calderon (nach Gries).

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Jn der That ist dies die Art und Weise, in welcher die spanischen pgo_212.016
Dramatiker diesen Vers behandelt haben. Jhre Eigenthümlichkeit, das pgo_212.017
blendende und schlagende Phantasiespiel, die Dialektik der Begriffe, der pgo_212.018
Pomp der Schilderung, die Häufung der Sentenzen und Bilder, hängt pgo_212.019
wesentlich mit dem Gebrauche dieses Verses zusammen. Doch da gerade pgo_212.020
diese Eigenschaften keine Vorzüge des dramatischen Styles sind, der im pgo_212.021
Gegentheile Energie des Ausdrucks und die Vermeidung alles überflüssigen pgo_212.022
Pompes in weithingezogenen Schilderungen und Betrachtungen verlangt: pgo_212.023
so kann die Anwendung des vierfüßigen Trochäus im deutschen Drama pgo_212.024
nicht gebilligt und anempfohlen werden. Nach dem Vorgang der pgo_212.025
Romantiker haben die deutschen Schicksalstragöden Müllner in der pgo_212.026
"Schuld," Grillparzer in der "Ahnfrau," Houwald im "Leuchtthurm," pgo_212.027
außerdem Schenk im "Belisar," Beer im "Paria," Auffenberg pgo_212.028
in der "Alhambra," Raupach, Zedlitz u. A. in einigen Dramen pgo_212.029
den vierfüßigen Trochäus in Anwendung gebracht; aber nicht ohne damit pgo_212.030
ein ebenso spitzfindiges wie weitschweifiges Pathos, eine an Wiederholungen pgo_212.031
reiche Redseligkeit zu verbinden und die lyrische Reflexion über die pgo_212.032
dramatisch-straffe Motivirung überwiegen zu lassen, Fehler, zu denen dieser pgo_212.033
reflektirende Vers von selbst verführt. Auch die spanische Romanze pgo_212.034
hat ihn für ihre epische Lyrik gebraucht; der "Cid" von Herder giebt pgo_212.035
uns ihre Klänge anmuthig wieder. Für die Epik sind die Anaphoren pgo_212.036
und Epistrophen dieses Vierfüßlers emphatische Mittelglieder zur Fortführung pgo_212.037
der Erzählung, z. B.

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geeigneten Charakter:

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[212/0234] pgo_212.001 Träumet, wer von Haß entbrennt, pgo_212.002 Kurz, auf diesem Erdenballe pgo_212.003 Träumen, was sie leben, alle, pgo_212.004 Ob es Keiner gleich erkennt. pgo_212.005 Calderon (nach Gries). pgo_212.006 Das folgende Beispiel zeigt dagegen seinen für die Sentenzenfülle pgo_212.007 geeigneten Charakter: pgo_212.008 Was ist Leben? Raserei! pgo_212.009 Was ist Leben? Hohler Schaum! pgo_212.010 Ein Gedicht, ein Schatten kaum! pgo_212.011 Wenig kann das Glück uns geben, pgo_212.012 Denn ein Traum ist alles Leben, pgo_212.013 Und die Träume selbst sind Traum. pgo_212.014 Calderon (nach Gries). pgo_212.015 Jn der That ist dies die Art und Weise, in welcher die spanischen pgo_212.016 Dramatiker diesen Vers behandelt haben. Jhre Eigenthümlichkeit, das pgo_212.017 blendende und schlagende Phantasiespiel, die Dialektik der Begriffe, der pgo_212.018 Pomp der Schilderung, die Häufung der Sentenzen und Bilder, hängt pgo_212.019 wesentlich mit dem Gebrauche dieses Verses zusammen. Doch da gerade pgo_212.020 diese Eigenschaften keine Vorzüge des dramatischen Styles sind, der im pgo_212.021 Gegentheile Energie des Ausdrucks und die Vermeidung alles überflüssigen pgo_212.022 Pompes in weithingezogenen Schilderungen und Betrachtungen verlangt: pgo_212.023 so kann die Anwendung des vierfüßigen Trochäus im deutschen Drama pgo_212.024 nicht gebilligt und anempfohlen werden. Nach dem Vorgang der pgo_212.025 Romantiker haben die deutschen Schicksalstragöden Müllner in der pgo_212.026 „Schuld,“ Grillparzer in der „Ahnfrau,“ Houwald im „Leuchtthurm,“ pgo_212.027 außerdem Schenk im „Belisar,“ Beer im „Paria,“ Auffenberg pgo_212.028 in der „Alhambra,“ Raupach, Zedlitz u. A. in einigen Dramen pgo_212.029 den vierfüßigen Trochäus in Anwendung gebracht; aber nicht ohne damit pgo_212.030 ein ebenso spitzfindiges wie weitschweifiges Pathos, eine an Wiederholungen pgo_212.031 reiche Redseligkeit zu verbinden und die lyrische Reflexion über die pgo_212.032 dramatisch-straffe Motivirung überwiegen zu lassen, Fehler, zu denen dieser pgo_212.033 reflektirende Vers von selbst verführt. Auch die spanische Romanze pgo_212.034 hat ihn für ihre epische Lyrik gebraucht; der „Cid“ von Herder giebt pgo_212.035 uns ihre Klänge anmuthig wieder. Für die Epik sind die Anaphoren pgo_212.036 und Epistrophen dieses Vierfüßlers emphatische Mittelglieder zur Fortführung pgo_212.037 der Erzählung, z. B.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/234>, abgerufen am 24.04.2024.