Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_215.001
anspringenden, hinausdrängenden Gang. Er ist der Vers des dramatischen pgo_215.002
Pathos, der auf die Zukunft wirkenden Handlung, der auf sie hinausweisenden pgo_215.003
Spannung. Schon die Jamben der Griechen hatten einen pgo_215.004
angreifenden Charakter, und so heftig war der in sie ergossene Spott des pgo_215.005
Archilochos, des ersten Jambendichters, daß die davon Betroffenen sich pgo_215.006
selbst das Leben nahmen. Wie der Trochäus für das über seinen Tiefen pgo_215.007
brütende Gemüth, für den über den Räthseln des Lebens grübelnden pgo_215.008
Geist der willkommene rhythmische Träger ist: so der Jambus für das pgo_215.009
Gemüth, das den Eindruck der Welt erfaßt, für den Geist, der sich in pgo_215.010
kühner Selbstständigkeit ihr gegenüberstellt. Der Trochäus ist subjektiver, pgo_215.011
der Jambus objektiver. Der Trochäus beginnt mit dem vollen Klange, pgo_215.012
der Jambus muß ihn erst erringen. Die Länge im Trochäus ist die pgo_215.013
ruhige Basis des Verses, von welchem er ruhig absinkt; die Länge des pgo_215.014
Jambus ein immer neues Hinderniß, gegen welches er stets von neuem pgo_215.015
anstürmt. Darum ist der Jambus der Vers des unruhigen Strebens, pgo_215.016
des sehnsüchtigen Gefühles, des ringenden Gedankens, des kämpfenden pgo_215.017
Willens. Er ist der Vers frischer Liebeslyrik, welche die Schranken zu pgo_215.018
durchbrechen trachtet, der Vers der Gedankenpoesie; denn auch der Gedanke pgo_215.019
ringt mit der Welt und sucht sie zu überwinden, der Vers des Drama's, pgo_215.020
denn das Drama zeigt uns den Kampf des menschlichen Willens, die pgo_215.021
energische Spannung des Menschen gegen den Menschen. Auch für eine pgo_215.022
nicht allzu schwunghafte Schilderung, welche dem Objekt Zug für Zug pgo_215.023
ablauscht, gleichsam in immer neuem Anlaufe auf dasselbe andringt, pgo_215.024
ist er geeignet, und die epische Poesie hat ihn in kunstvolle Strophen pgo_215.025
gegliedert.

pgo_215.026
Die Vielseitigkeit des Jambus, seine Anwendung in allen Zweigen pgo_215.027
der Dichtkunst hat im Deutschen ihren tieferen Grund. Unsere Sprache pgo_215.028
hat wenig Wörter, welche den Jambus selbstständig ausprägen z. B. pgo_215.029
Gebet. Dadurch wird im jambischen Versmaaß das Zusammenfallen pgo_215.030
der Wort- und Versfüße, die Gefahr des Trochäus, vermieden und im pgo_215.031
Gegentheile durch fortwährende Einschnitte eine große rhythmische Lebendigkeit pgo_215.032
hervorgerufen, welche dem an und für sich frischeren Charakter des pgo_215.033
Verses noch mehr zugute kommt.

pgo_215.034
Der Jambus kann mit dem Spondäus und Anapästus wechseln, pgo_215.035
welche eigentlich nur im ersten Fuße jeder Dipodie Platz greifen.

pgo_215.001
anspringenden, hinausdrängenden Gang. Er ist der Vers des dramatischen pgo_215.002
Pathos, der auf die Zukunft wirkenden Handlung, der auf sie hinausweisenden pgo_215.003
Spannung. Schon die Jamben der Griechen hatten einen pgo_215.004
angreifenden Charakter, und so heftig war der in sie ergossene Spott des pgo_215.005
Archilochos, des ersten Jambendichters, daß die davon Betroffenen sich pgo_215.006
selbst das Leben nahmen. Wie der Trochäus für das über seinen Tiefen pgo_215.007
brütende Gemüth, für den über den Räthseln des Lebens grübelnden pgo_215.008
Geist der willkommene rhythmische Träger ist: so der Jambus für das pgo_215.009
Gemüth, das den Eindruck der Welt erfaßt, für den Geist, der sich in pgo_215.010
kühner Selbstständigkeit ihr gegenüberstellt. Der Trochäus ist subjektiver, pgo_215.011
der Jambus objektiver. Der Trochäus beginnt mit dem vollen Klange, pgo_215.012
der Jambus muß ihn erst erringen. Die Länge im Trochäus ist die pgo_215.013
ruhige Basis des Verses, von welchem er ruhig absinkt; die Länge des pgo_215.014
Jambus ein immer neues Hinderniß, gegen welches er stets von neuem pgo_215.015
anstürmt. Darum ist der Jambus der Vers des unruhigen Strebens, pgo_215.016
des sehnsüchtigen Gefühles, des ringenden Gedankens, des kämpfenden pgo_215.017
Willens. Er ist der Vers frischer Liebeslyrik, welche die Schranken zu pgo_215.018
durchbrechen trachtet, der Vers der Gedankenpoesie; denn auch der Gedanke pgo_215.019
ringt mit der Welt und sucht sie zu überwinden, der Vers des Drama's, pgo_215.020
denn das Drama zeigt uns den Kampf des menschlichen Willens, die pgo_215.021
energische Spannung des Menschen gegen den Menschen. Auch für eine pgo_215.022
nicht allzu schwunghafte Schilderung, welche dem Objekt Zug für Zug pgo_215.023
ablauscht, gleichsam in immer neuem Anlaufe auf dasselbe andringt, pgo_215.024
ist er geeignet, und die epische Poesie hat ihn in kunstvolle Strophen pgo_215.025
gegliedert.

pgo_215.026
Die Vielseitigkeit des Jambus, seine Anwendung in allen Zweigen pgo_215.027
der Dichtkunst hat im Deutschen ihren tieferen Grund. Unsere Sprache pgo_215.028
hat wenig Wörter, welche den Jambus selbstständig ausprägen z. B. pgo_215.029
Gebet. Dadurch wird im jambischen Versmaaß das Zusammenfallen pgo_215.030
der Wort- und Versfüße, die Gefahr des Trochäus, vermieden und im pgo_215.031
Gegentheile durch fortwährende Einschnitte eine große rhythmische Lebendigkeit pgo_215.032
hervorgerufen, welche dem an und für sich frischeren Charakter des pgo_215.033
Verses noch mehr zugute kommt.

pgo_215.034
Der Jambus kann mit dem Spondäus und Anapästus wechseln, pgo_215.035
welche eigentlich nur im ersten Fuße jeder Dipodie Platz greifen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0237" n="215"/><lb n="pgo_215.001"/>
anspringenden, hinausdrängenden Gang. Er ist der Vers des dramatischen <lb n="pgo_215.002"/>
Pathos, der auf die Zukunft wirkenden Handlung, der auf sie hinausweisenden <lb n="pgo_215.003"/>
Spannung. Schon die Jamben der Griechen hatten einen <lb n="pgo_215.004"/>
angreifenden Charakter, und so heftig war der in sie ergossene Spott des <lb n="pgo_215.005"/>
Archilochos, des ersten Jambendichters, daß die davon Betroffenen sich <lb n="pgo_215.006"/>
selbst das Leben nahmen. Wie der Trochäus für das über seinen Tiefen <lb n="pgo_215.007"/>
brütende Gemüth, für den über den Räthseln des Lebens grübelnden <lb n="pgo_215.008"/>
Geist der willkommene rhythmische Träger ist: so der Jambus für das <lb n="pgo_215.009"/>
Gemüth, das den Eindruck der Welt erfaßt, für den Geist, der sich in <lb n="pgo_215.010"/>
kühner Selbstständigkeit ihr gegenüberstellt. Der Trochäus ist subjektiver, <lb n="pgo_215.011"/>
der Jambus objektiver. Der Trochäus beginnt mit dem vollen Klange, <lb n="pgo_215.012"/>
der Jambus muß ihn erst erringen. Die Länge im Trochäus ist die <lb n="pgo_215.013"/>
ruhige Basis des Verses, von welchem er ruhig absinkt; die Länge des <lb n="pgo_215.014"/>
Jambus ein immer neues Hinderniß, gegen welches er stets von neuem <lb n="pgo_215.015"/>
anstürmt. Darum ist der Jambus der Vers des unruhigen Strebens, <lb n="pgo_215.016"/>
des sehnsüchtigen Gefühles, des ringenden Gedankens, des kämpfenden <lb n="pgo_215.017"/>
Willens. Er ist der Vers frischer Liebeslyrik, welche die Schranken zu <lb n="pgo_215.018"/>
durchbrechen trachtet, der Vers der Gedankenpoesie; denn auch der Gedanke <lb n="pgo_215.019"/>
ringt mit der Welt und sucht sie zu überwinden, der Vers des Drama's, <lb n="pgo_215.020"/>
denn das Drama zeigt uns den Kampf des menschlichen Willens, die <lb n="pgo_215.021"/>
energische Spannung des Menschen gegen den Menschen. Auch für eine <lb n="pgo_215.022"/>
nicht allzu schwunghafte Schilderung, welche dem Objekt Zug für Zug <lb n="pgo_215.023"/>
ablauscht, gleichsam in immer neuem Anlaufe auf dasselbe andringt, <lb n="pgo_215.024"/>
ist er geeignet, und die epische Poesie hat ihn in kunstvolle Strophen <lb n="pgo_215.025"/>
gegliedert.</p>
                <p><lb n="pgo_215.026"/>
Die Vielseitigkeit des Jambus, seine Anwendung in allen Zweigen <lb n="pgo_215.027"/>
der Dichtkunst hat im Deutschen ihren tieferen Grund. Unsere Sprache <lb n="pgo_215.028"/>
hat wenig Wörter, welche den Jambus selbstständig ausprägen z. B. <lb n="pgo_215.029"/>
Gebet. Dadurch wird im jambischen Versmaaß das Zusammenfallen <lb n="pgo_215.030"/>
der Wort- und Versfüße, die Gefahr des Trochäus, vermieden und im <lb n="pgo_215.031"/>
Gegentheile durch fortwährende Einschnitte eine große rhythmische Lebendigkeit <lb n="pgo_215.032"/>
hervorgerufen, welche dem an und für sich frischeren Charakter des <lb n="pgo_215.033"/>
Verses noch mehr zugute kommt.</p>
                <p><lb n="pgo_215.034"/>
Der <hi rendition="#g">Jambus</hi> kann mit dem <hi rendition="#g">Spondäus</hi> und <hi rendition="#g">Anapästus</hi> wechseln, <lb n="pgo_215.035"/>
welche eigentlich nur im ersten Fuße jeder Dipodie Platz greifen.
</p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[215/0237] pgo_215.001 anspringenden, hinausdrängenden Gang. Er ist der Vers des dramatischen pgo_215.002 Pathos, der auf die Zukunft wirkenden Handlung, der auf sie hinausweisenden pgo_215.003 Spannung. Schon die Jamben der Griechen hatten einen pgo_215.004 angreifenden Charakter, und so heftig war der in sie ergossene Spott des pgo_215.005 Archilochos, des ersten Jambendichters, daß die davon Betroffenen sich pgo_215.006 selbst das Leben nahmen. Wie der Trochäus für das über seinen Tiefen pgo_215.007 brütende Gemüth, für den über den Räthseln des Lebens grübelnden pgo_215.008 Geist der willkommene rhythmische Träger ist: so der Jambus für das pgo_215.009 Gemüth, das den Eindruck der Welt erfaßt, für den Geist, der sich in pgo_215.010 kühner Selbstständigkeit ihr gegenüberstellt. Der Trochäus ist subjektiver, pgo_215.011 der Jambus objektiver. Der Trochäus beginnt mit dem vollen Klange, pgo_215.012 der Jambus muß ihn erst erringen. Die Länge im Trochäus ist die pgo_215.013 ruhige Basis des Verses, von welchem er ruhig absinkt; die Länge des pgo_215.014 Jambus ein immer neues Hinderniß, gegen welches er stets von neuem pgo_215.015 anstürmt. Darum ist der Jambus der Vers des unruhigen Strebens, pgo_215.016 des sehnsüchtigen Gefühles, des ringenden Gedankens, des kämpfenden pgo_215.017 Willens. Er ist der Vers frischer Liebeslyrik, welche die Schranken zu pgo_215.018 durchbrechen trachtet, der Vers der Gedankenpoesie; denn auch der Gedanke pgo_215.019 ringt mit der Welt und sucht sie zu überwinden, der Vers des Drama's, pgo_215.020 denn das Drama zeigt uns den Kampf des menschlichen Willens, die pgo_215.021 energische Spannung des Menschen gegen den Menschen. Auch für eine pgo_215.022 nicht allzu schwunghafte Schilderung, welche dem Objekt Zug für Zug pgo_215.023 ablauscht, gleichsam in immer neuem Anlaufe auf dasselbe andringt, pgo_215.024 ist er geeignet, und die epische Poesie hat ihn in kunstvolle Strophen pgo_215.025 gegliedert. pgo_215.026 Die Vielseitigkeit des Jambus, seine Anwendung in allen Zweigen pgo_215.027 der Dichtkunst hat im Deutschen ihren tieferen Grund. Unsere Sprache pgo_215.028 hat wenig Wörter, welche den Jambus selbstständig ausprägen z. B. pgo_215.029 Gebet. Dadurch wird im jambischen Versmaaß das Zusammenfallen pgo_215.030 der Wort- und Versfüße, die Gefahr des Trochäus, vermieden und im pgo_215.031 Gegentheile durch fortwährende Einschnitte eine große rhythmische Lebendigkeit pgo_215.032 hervorgerufen, welche dem an und für sich frischeren Charakter des pgo_215.033 Verses noch mehr zugute kommt. pgo_215.034 Der Jambus kann mit dem Spondäus und Anapästus wechseln, pgo_215.035 welche eigentlich nur im ersten Fuße jeder Dipodie Platz greifen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/237
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/237>, abgerufen am 25.04.2024.