Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_479.001
Begründung in der Ansicht des Verfassers finden, daß der Zusammenhang zwischen pgo_479.002
Wissenschaft und Kunst, besonders zwischen Philosophie und Poesie, seit unserer classischen pgo_479.003
Epoche ein unzertrennbarer ist. Sowenig Schiller ohne Kant begriffen werden pgo_479.004
kann, sowenig ist es möglich, die moderne Poesie und ihre wesentlichen Gedankenhebel pgo_479.005
ohne Kenntniß des Hegel'schen Systems und seiner Entwicklung zu verstehn. Während pgo_479.006
also die Philosophie eine organische Nothwendigkeit für eine moderne Literaturgeschichte pgo_479.007
ist, haben die andern Wissenschaften allerdings für sie eine eingeschränktere Bedeutung, pgo_479.008
obschon die Geschichtschreibung ohne Zweifel mit hereingezogen werden muß und in pgo_479.009
neuester Zeit selbst die Naturwissenschaften eine belletristische Färbung angenommen haben.

pgo_479.010
Jn Bezug auf das jüngste Decennium unserer Literatur wird man gewiß in Gruppirung pgo_479.011
und Auffassung eine große Verwandtschaft mit dem Geiste jener literarhistorischen pgo_479.012
Abhandlungen entdecken, welche die von Brockhaus herausgegebene "Gegenwart" pgo_479.013
enthält. Jch bekenne mich daher hiermit als den Verfasser jener Aufsätze über pgo_479.014
die moderne deutsche Philosophie und Poesie.

pgo_479.015
Wenn dies Werk dazu dient, der geistigen Entwickelung unserer Nation in diesem pgo_479.016
Jahrhundert einen rühmlichen Denkstein zu setzen, der aber nicht, wie Viele wollen, ein pgo_479.017
Grabstein ist; wenn es dazu dient, herrschende Vorurtheile durch Thatsachen zu widerlegen, pgo_479.018
das Jnteresse der Gebildeten, das sich an einzelnen Erscheinungen zersplittert, auf pgo_479.019
die Gesammtheit unseres literarischen Lebens und ihre Bedeutung hinzulenken und dem pgo_479.020
Stolze der Nation auf ihre geistigen Schätze, der sich mehr an die Vergangenheit wendet, pgo_479.021
auch für die Gegenwart einen sichern Halt zu bieten: so ist sein Zweck vollkommen pgo_479.022
erreicht, um so mehr, wenn dies Buch künftigen Literarhistorikern eine willkommene pgo_479.023
Vorarbeit sein sollte. Mag der Verfasser in einzelnen Urtheilen geirrt haben, er weiß, pgo_479.024
daß persönliche Zuneigung oder Abneigung nicht seine Feder führten, sondern nur der pgo_479.025
Ernst der Ueberzeugung und die Begeisterung für das nimmer alternde geistige Leben pgo_479.026
seiner Nation.

pgo_479.027
Breslau.Dr. Rudolph Gottschall.

pgo_479.028
Die günstige Aufnahme, welche dieses geistreiche Werk sowohl im ganzen gebildeten pgo_479.029
Publikum, als von Seiten der Kritik erfahren hat, überhebt uns jeder weiteren pgo_479.030
Anpreisung. -- Wir erlauben uns daher nur wiederholt auf dasselbe aufmerksam zu pgo_479.031
machen und diesen Hinweis durch Anführung einiger Bruchstücke der zahlreichen Beurtheilungen pgo_479.032
desselben zu rechtfertigen.

pgo_479.033
Die Blätter für literarische Unterhaltung (Jahrg. 1855. Nr. 35) sprechen sich in einer sehr eingehenden pgo_479.034
Kritik über das in Rede stehende Werk wie folgt aus: "-- -- Der Hauptvorzug der Gottschall'schen pgo_479.035
Literaturgeschichte und zugleich diejenige Eigenschaft, durch die sie sich fast vor allen übrigen vortheilhaft auszeichnet pgo_479.036
(etwa Mundt's durch ihre "weltliterarischen Tendenzen" außerdem interessante "Geschichte der Literatur pgo_479.037
der Gegenwart" ausgenommen), beruht in dem Muth, der Energie und der Entschiedenheit, womit sich Gottschall pgo_479.038
auf den Boden der modernen Tendenzen stellt, ihn verficht und allen entgegengesetzten Tendenzen streitig pgo_479.039
macht. Nicht als ob wir mit ihm in allen Punkten übereinstimmten oder seine, wie es uns scheint, allzu sanguinischen pgo_479.040
Hoffnungen alle theilten: aber seine Befürwortung dieser Tendenzen ist vollkommen berechtigt, wie pgo_479.041
sie selbst berechtigt sind. Diese Tendenzen haben sich historisch, also nothwendig herausgebildet, sonst wären pgo_479.042
sie überhaupt nicht da; sie sind das Resultat einer Reihe vorhergegangener geistiger, gesellschaftlicher und politischer pgo_479.043
Entwickelungen und Conflicte. Möglich, daß sie nur bloße Gase sind, welche von der Atmosphäre der pgo_479.044
Geschichte allmählich aufgesogen, verarbeitet und verflüchtigt werden; aber die Zeitstoffe, aus denen sie sich pgo_479.045
entwickelten, existiren einmal, und jede Zeit hat ihr eigenes Recht. Andere Literaturgeschichtschreiber haben sie pgo_479.046
bekämpft, andere sie ignorirt; es ist natürlich und wünschenswerth, daß sich auch solche finden, welche für sie pgo_479.047
das Wort ergreifen. Was die Poesie betrifft, so hat bekanntlich Gervinus unserer Zeit die Berechtigung zur pgo_479.048
Cultivirung derselben abgesprochen, wie Savigny ihr die Berechtigung zur Gesetzgebung abgesprochen hat. pgo_479.049
Gervinus will, daß man die Poesie jetzt brach liegen lasse. Das wäre gerade, als ob man sagen wollte: unsere pgo_479.050
Musik taugt Nichts, mithin darf nicht mehr musicirt werden; unsere Politik ist faul, mithin darf keine Politik pgo_479.051
mehr getrieben werden; unsere Civilisation ist verderbt, mithin muß die Civilisation ausgerottet werden. Gottschall's pgo_479.052
Literaturgeschichte ist somit als ein nothwendiges Supplement zur berühmten Gervinus'schen Literaturgeschichte pgo_479.053
und überhaupt als ein berichtigendes Ergänzungswerk der meisten anderen Literaturgeschichten anzusehen, pgo_479.054
wie wegen geistreicher Auffassungs- und Behandlungsweise des Stoffes bestens zu empfehlen. Sie hat pgo_479.055
zwar, wie schon bemerkt, ebenfalls eine etwas vornehme exclusiv literarische, aber, wie wir hinzufügen dürfen, pgo_479.056
zugleich noble, wir möchten sagen chevalereske Haltung."

pgo_479.057
Die Novellenzeitung (1855. Nr. 27. 28 und 1856. Nr. 2) widmet unserm Werke eine durch drei Nummern pgo_479.058
fortlaufende Besprechung. An eine Vergleichung mit der Julian Schmidt'schen Literaturgeschichte pgo_479.059
anknüpfend, sagt dieselbe über das Gottschall'sche Werk: "Es giebt eine Weise, in der es sehr wohl möglich ist, pgo_479.060
die strengste Jntegrität des Charakters, das unantastbarste sittliche Pathos zu vereinigen mit stets bereitwilliger pgo_479.061
Receptivität, mit vielseitigster Hingabe an die Mannichfaltigkeit der Erscheinungen, -- das ist die Weise, zu pgo_479.062
"charakterisiren," und diese ist es, die Gottschall vornehmlich in seiner Literaturgeschichte angewandt hat. Er pgo_479.063
giebt nicht nur Urtheile, er giebt Bilder der literarischen Werke und der schriftstellerischen Persönlichkeiten,

pgo_479.001
Begründung in der Ansicht des Verfassers finden, daß der Zusammenhang zwischen pgo_479.002
Wissenschaft und Kunst, besonders zwischen Philosophie und Poesie, seit unserer classischen pgo_479.003
Epoche ein unzertrennbarer ist. Sowenig Schiller ohne Kant begriffen werden pgo_479.004
kann, sowenig ist es möglich, die moderne Poesie und ihre wesentlichen Gedankenhebel pgo_479.005
ohne Kenntniß des Hegel'schen Systems und seiner Entwicklung zu verstehn. Während pgo_479.006
also die Philosophie eine organische Nothwendigkeit für eine moderne Literaturgeschichte pgo_479.007
ist, haben die andern Wissenschaften allerdings für sie eine eingeschränktere Bedeutung, pgo_479.008
obschon die Geschichtschreibung ohne Zweifel mit hereingezogen werden muß und in pgo_479.009
neuester Zeit selbst die Naturwissenschaften eine belletristische Färbung angenommen haben.

pgo_479.010
Jn Bezug auf das jüngste Decennium unserer Literatur wird man gewiß in Gruppirung pgo_479.011
und Auffassung eine große Verwandtschaft mit dem Geiste jener literarhistorischen pgo_479.012
Abhandlungen entdecken, welche die von Brockhaus herausgegebene „Gegenwartpgo_479.013
enthält. Jch bekenne mich daher hiermit als den Verfasser jener Aufsätze über pgo_479.014
die moderne deutsche Philosophie und Poesie.

pgo_479.015
Wenn dies Werk dazu dient, der geistigen Entwickelung unserer Nation in diesem pgo_479.016
Jahrhundert einen rühmlichen Denkstein zu setzen, der aber nicht, wie Viele wollen, ein pgo_479.017
Grabstein ist; wenn es dazu dient, herrschende Vorurtheile durch Thatsachen zu widerlegen, pgo_479.018
das Jnteresse der Gebildeten, das sich an einzelnen Erscheinungen zersplittert, auf pgo_479.019
die Gesammtheit unseres literarischen Lebens und ihre Bedeutung hinzulenken und dem pgo_479.020
Stolze der Nation auf ihre geistigen Schätze, der sich mehr an die Vergangenheit wendet, pgo_479.021
auch für die Gegenwart einen sichern Halt zu bieten: so ist sein Zweck vollkommen pgo_479.022
erreicht, um so mehr, wenn dies Buch künftigen Literarhistorikern eine willkommene pgo_479.023
Vorarbeit sein sollte. Mag der Verfasser in einzelnen Urtheilen geirrt haben, er weiß, pgo_479.024
daß persönliche Zuneigung oder Abneigung nicht seine Feder führten, sondern nur der pgo_479.025
Ernst der Ueberzeugung und die Begeisterung für das nimmer alternde geistige Leben pgo_479.026
seiner Nation.

pgo_479.027
Breslau.Dr. Rudolph Gottschall.

pgo_479.028
Die günstige Aufnahme, welche dieses geistreiche Werk sowohl im ganzen gebildeten pgo_479.029
Publikum, als von Seiten der Kritik erfahren hat, überhebt uns jeder weiteren pgo_479.030
Anpreisung. — Wir erlauben uns daher nur wiederholt auf dasselbe aufmerksam zu pgo_479.031
machen und diesen Hinweis durch Anführung einiger Bruchstücke der zahlreichen Beurtheilungen pgo_479.032
desselben zu rechtfertigen.

pgo_479.033
Die Blätter für literarische Unterhaltung (Jahrg. 1855. Nr. 35) sprechen sich in einer sehr eingehenden pgo_479.034
Kritik über das in Rede stehende Werk wie folgt aus: »— — Der Hauptvorzug der Gottschall'schen pgo_479.035
Literaturgeschichte und zugleich diejenige Eigenschaft, durch die sie sich fast vor allen übrigen vortheilhaft auszeichnet pgo_479.036
(etwa Mundt's durch ihre »weltliterarischen Tendenzen« außerdem interessante »Geschichte der Literatur pgo_479.037
der Gegenwart« ausgenommen), beruht in dem Muth, der Energie und der Entschiedenheit, womit sich Gottschall pgo_479.038
auf den Boden der modernen Tendenzen stellt, ihn verficht und allen entgegengesetzten Tendenzen streitig pgo_479.039
macht. Nicht als ob wir mit ihm in allen Punkten übereinstimmten oder seine, wie es uns scheint, allzu sanguinischen pgo_479.040
Hoffnungen alle theilten: aber seine Befürwortung dieser Tendenzen ist vollkommen berechtigt, wie pgo_479.041
sie selbst berechtigt sind. Diese Tendenzen haben sich historisch, also nothwendig herausgebildet, sonst wären pgo_479.042
sie überhaupt nicht da; sie sind das Resultat einer Reihe vorhergegangener geistiger, gesellschaftlicher und politischer pgo_479.043
Entwickelungen und Conflicte. Möglich, daß sie nur bloße Gase sind, welche von der Atmosphäre der pgo_479.044
Geschichte allmählich aufgesogen, verarbeitet und verflüchtigt werden; aber die Zeitstoffe, aus denen sie sich pgo_479.045
entwickelten, existiren einmal, und jede Zeit hat ihr eigenes Recht. Andere Literaturgeschichtschreiber haben sie pgo_479.046
bekämpft, andere sie ignorirt; es ist natürlich und wünschenswerth, daß sich auch solche finden, welche für sie pgo_479.047
das Wort ergreifen. Was die Poesie betrifft, so hat bekanntlich Gervinus unserer Zeit die Berechtigung zur pgo_479.048
Cultivirung derselben abgesprochen, wie Savigny ihr die Berechtigung zur Gesetzgebung abgesprochen hat. pgo_479.049
Gervinus will, daß man die Poesie jetzt brach liegen lasse. Das wäre gerade, als ob man sagen wollte: unsere pgo_479.050
Musik taugt Nichts, mithin darf nicht mehr musicirt werden; unsere Politik ist faul, mithin darf keine Politik pgo_479.051
mehr getrieben werden; unsere Civilisation ist verderbt, mithin muß die Civilisation ausgerottet werden. Gottschall's pgo_479.052
Literaturgeschichte ist somit als ein nothwendiges Supplement zur berühmten Gervinus'schen Literaturgeschichte pgo_479.053
und überhaupt als ein berichtigendes Ergänzungswerk der meisten anderen Literaturgeschichten anzusehen, pgo_479.054
wie wegen geistreicher Auffassungs- und Behandlungsweise des Stoffes bestens zu empfehlen. Sie hat pgo_479.055
zwar, wie schon bemerkt, ebenfalls eine etwas vornehme exclusiv literarische, aber, wie wir hinzufügen dürfen, pgo_479.056
zugleich noble, wir möchten sagen chevalereske Haltung.«

pgo_479.057
Die Novellenzeitung (1855. Nr. 27. 28 und 1856. Nr. 2) widmet unserm Werke eine durch drei Nummern pgo_479.058
fortlaufende Besprechung. An eine Vergleichung mit der Julian Schmidt'schen Literaturgeschichte pgo_479.059
anknüpfend, sagt dieselbe über das Gottschall'sche Werk: »Es giebt eine Weise, in der es sehr wohl möglich ist, pgo_479.060
die strengste Jntegrität des Charakters, das unantastbarste sittliche Pathos zu vereinigen mit stets bereitwilliger pgo_479.061
Receptivität, mit vielseitigster Hingabe an die Mannichfaltigkeit der Erscheinungen, — das ist die Weise, zu pgo_479.062
»charakterisiren,« und diese ist es, die Gottschall vornehmlich in seiner Literaturgeschichte angewandt hat. Er pgo_479.063
giebt nicht nur Urtheile, er giebt Bilder der literarischen Werke und der schriftstellerischen Persönlichkeiten,

<TEI>
  <text>
    <back>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0501" n="E479"/><lb n="pgo_479.001"/>
Begründung in der Ansicht des Verfassers finden, daß der Zusammenhang zwischen <lb n="pgo_479.002"/>
Wissenschaft und Kunst, besonders zwischen Philosophie und Poesie, seit unserer classischen <lb n="pgo_479.003"/>
Epoche ein unzertrennbarer ist. Sowenig Schiller ohne Kant begriffen werden <lb n="pgo_479.004"/>
kann, sowenig ist es möglich, die moderne Poesie und ihre wesentlichen Gedankenhebel <lb n="pgo_479.005"/>
ohne Kenntniß des Hegel'schen Systems und seiner Entwicklung zu verstehn. Während <lb n="pgo_479.006"/>
also die Philosophie eine organische Nothwendigkeit für eine moderne Literaturgeschichte <lb n="pgo_479.007"/>
ist, haben die andern Wissenschaften allerdings für sie eine eingeschränktere Bedeutung, <lb n="pgo_479.008"/>
obschon die Geschichtschreibung ohne Zweifel mit hereingezogen werden muß und in <lb n="pgo_479.009"/>
neuester Zeit selbst die Naturwissenschaften eine belletristische Färbung angenommen haben.</p>
        <p><lb n="pgo_479.010"/>
Jn Bezug auf das jüngste Decennium unserer Literatur wird man gewiß in Gruppirung <lb n="pgo_479.011"/>
und Auffassung eine große Verwandtschaft mit dem Geiste jener literarhistorischen <lb n="pgo_479.012"/>
Abhandlungen entdecken, welche die von Brockhaus herausgegebene &#x201E;<hi rendition="#g">Gegenwart</hi>&#x201C; <lb n="pgo_479.013"/>
enthält. Jch bekenne mich daher hiermit als den Verfasser jener Aufsätze über <lb n="pgo_479.014"/>
die moderne deutsche Philosophie und Poesie.</p>
        <p><lb n="pgo_479.015"/>
Wenn dies Werk dazu dient, der geistigen Entwickelung unserer Nation in diesem <lb n="pgo_479.016"/>
Jahrhundert einen rühmlichen Denkstein zu setzen, der aber nicht, wie Viele wollen, ein <lb n="pgo_479.017"/>
Grabstein ist; wenn es dazu dient, herrschende Vorurtheile durch Thatsachen zu widerlegen, <lb n="pgo_479.018"/>
das Jnteresse der Gebildeten, das sich an einzelnen Erscheinungen zersplittert, auf <lb n="pgo_479.019"/>
die Gesammtheit unseres literarischen Lebens und ihre Bedeutung hinzulenken und dem <lb n="pgo_479.020"/>
Stolze der Nation auf ihre geistigen Schätze, der sich mehr an die Vergangenheit wendet, <lb n="pgo_479.021"/>
auch für die Gegenwart einen sichern Halt zu bieten: so ist sein Zweck vollkommen <lb n="pgo_479.022"/>
erreicht, um so mehr, wenn dies Buch künftigen Literarhistorikern eine willkommene <lb n="pgo_479.023"/>
Vorarbeit sein sollte. Mag der Verfasser in einzelnen Urtheilen geirrt haben, er weiß, <lb n="pgo_479.024"/>
daß persönliche Zuneigung oder Abneigung nicht seine Feder führten, sondern nur der <lb n="pgo_479.025"/>
Ernst der Ueberzeugung und die Begeisterung für das nimmer alternde geistige Leben <lb n="pgo_479.026"/>
seiner Nation.</p>
        <p><lb n="pgo_479.027"/><hi rendition="#g">Breslau</hi>.<hi rendition="#right"><hi rendition="#aq">Dr</hi>. Rudolph Gottschall.</hi></p>
        <p><lb n="pgo_479.028"/>
Die günstige Aufnahme, welche dieses geistreiche Werk sowohl im ganzen gebildeten <lb n="pgo_479.029"/>
Publikum, als von Seiten der Kritik erfahren hat, überhebt uns jeder weiteren <lb n="pgo_479.030"/>
Anpreisung. &#x2014; Wir erlauben uns daher nur wiederholt auf dasselbe aufmerksam zu <lb n="pgo_479.031"/>
machen und diesen Hinweis durch Anführung einiger Bruchstücke der zahlreichen Beurtheilungen <lb n="pgo_479.032"/>
desselben zu rechtfertigen.</p>
        <p><lb n="pgo_479.033"/>
Die Blätter für literarische Unterhaltung (Jahrg. 1855. Nr. 35) sprechen sich in einer sehr eingehenden <lb n="pgo_479.034"/>
Kritik über das in Rede stehende Werk wie folgt aus: »&#x2014; &#x2014; Der Hauptvorzug der Gottschall'schen <lb n="pgo_479.035"/>
Literaturgeschichte und zugleich diejenige Eigenschaft, durch die sie sich fast vor allen übrigen vortheilhaft auszeichnet <lb n="pgo_479.036"/>
(etwa Mundt's durch ihre »weltliterarischen Tendenzen« außerdem interessante »Geschichte der Literatur <lb n="pgo_479.037"/>
der Gegenwart« ausgenommen), beruht in dem Muth, der Energie und der Entschiedenheit, womit sich Gottschall <lb n="pgo_479.038"/>
auf den Boden der modernen Tendenzen stellt, ihn verficht und allen entgegengesetzten Tendenzen streitig <lb n="pgo_479.039"/>
macht. Nicht als ob wir mit ihm in allen Punkten übereinstimmten oder seine, wie es uns scheint, allzu sanguinischen <lb n="pgo_479.040"/>
Hoffnungen alle theilten: aber seine Befürwortung dieser Tendenzen ist vollkommen berechtigt, wie <lb n="pgo_479.041"/>
sie selbst berechtigt sind. Diese Tendenzen haben sich historisch, also nothwendig herausgebildet, sonst wären <lb n="pgo_479.042"/>
sie überhaupt nicht da; sie sind das Resultat einer Reihe vorhergegangener geistiger, gesellschaftlicher und politischer <lb n="pgo_479.043"/>
Entwickelungen und Conflicte. Möglich, daß sie nur bloße Gase sind, welche von der Atmosphäre der <lb n="pgo_479.044"/>
Geschichte allmählich aufgesogen, verarbeitet und verflüchtigt werden; aber die Zeitstoffe, aus denen sie sich <lb n="pgo_479.045"/>
entwickelten, existiren einmal, und jede Zeit hat ihr eigenes Recht. Andere Literaturgeschichtschreiber haben sie <lb n="pgo_479.046"/>
bekämpft, andere sie ignorirt; es ist natürlich und wünschenswerth, daß sich auch solche finden, welche für sie <lb n="pgo_479.047"/>
das Wort ergreifen. Was die Poesie betrifft, so hat bekanntlich Gervinus unserer Zeit die Berechtigung zur <lb n="pgo_479.048"/>
Cultivirung derselben abgesprochen, wie Savigny ihr die Berechtigung zur Gesetzgebung abgesprochen hat. <lb n="pgo_479.049"/>
Gervinus will, daß man die Poesie jetzt brach liegen lasse. Das wäre gerade, als ob man sagen wollte: unsere <lb n="pgo_479.050"/>
Musik taugt Nichts, mithin darf nicht mehr musicirt werden; unsere Politik ist faul, mithin darf keine Politik <lb n="pgo_479.051"/>
mehr getrieben werden; unsere Civilisation ist verderbt, mithin muß die Civilisation ausgerottet werden. Gottschall's <lb n="pgo_479.052"/>
Literaturgeschichte ist somit als ein nothwendiges Supplement zur berühmten Gervinus'schen Literaturgeschichte <lb n="pgo_479.053"/>
und überhaupt als ein berichtigendes Ergänzungswerk der meisten anderen Literaturgeschichten anzusehen, <lb n="pgo_479.054"/>
wie wegen geistreicher Auffassungs- und Behandlungsweise des Stoffes bestens zu empfehlen. Sie hat <lb n="pgo_479.055"/>
zwar, wie schon bemerkt, ebenfalls eine etwas vornehme exclusiv literarische, aber, wie wir hinzufügen dürfen, <lb n="pgo_479.056"/>
zugleich noble, wir möchten sagen chevalereske Haltung.«</p>
        <p><lb n="pgo_479.057"/>
Die Novellenzeitung (1855. Nr. 27. 28 und 1856. Nr. 2) widmet unserm Werke eine durch drei Nummern <lb n="pgo_479.058"/>
fortlaufende Besprechung. An eine Vergleichung mit der <hi rendition="#g">Julian Schmidt'</hi>schen Literaturgeschichte <lb n="pgo_479.059"/>
anknüpfend, sagt dieselbe über das Gottschall'sche Werk: »Es giebt eine Weise, in der es sehr wohl möglich ist, <lb n="pgo_479.060"/>
die strengste Jntegrität des Charakters, das unantastbarste sittliche Pathos zu vereinigen mit stets bereitwilliger <lb n="pgo_479.061"/>
Receptivität, mit vielseitigster Hingabe an die Mannichfaltigkeit der Erscheinungen, &#x2014; das ist die Weise, zu <lb n="pgo_479.062"/>
»charakterisiren,« und diese ist es, die Gottschall vornehmlich in seiner Literaturgeschichte angewandt hat. Er <lb n="pgo_479.063"/>
giebt nicht nur Urtheile, er giebt Bilder der literarischen Werke und der schriftstellerischen Persönlichkeiten,
</p>
      </div>
    </back>
  </text>
</TEI>
[E479/0501] pgo_479.001 Begründung in der Ansicht des Verfassers finden, daß der Zusammenhang zwischen pgo_479.002 Wissenschaft und Kunst, besonders zwischen Philosophie und Poesie, seit unserer classischen pgo_479.003 Epoche ein unzertrennbarer ist. Sowenig Schiller ohne Kant begriffen werden pgo_479.004 kann, sowenig ist es möglich, die moderne Poesie und ihre wesentlichen Gedankenhebel pgo_479.005 ohne Kenntniß des Hegel'schen Systems und seiner Entwicklung zu verstehn. Während pgo_479.006 also die Philosophie eine organische Nothwendigkeit für eine moderne Literaturgeschichte pgo_479.007 ist, haben die andern Wissenschaften allerdings für sie eine eingeschränktere Bedeutung, pgo_479.008 obschon die Geschichtschreibung ohne Zweifel mit hereingezogen werden muß und in pgo_479.009 neuester Zeit selbst die Naturwissenschaften eine belletristische Färbung angenommen haben. pgo_479.010 Jn Bezug auf das jüngste Decennium unserer Literatur wird man gewiß in Gruppirung pgo_479.011 und Auffassung eine große Verwandtschaft mit dem Geiste jener literarhistorischen pgo_479.012 Abhandlungen entdecken, welche die von Brockhaus herausgegebene „Gegenwart“ pgo_479.013 enthält. Jch bekenne mich daher hiermit als den Verfasser jener Aufsätze über pgo_479.014 die moderne deutsche Philosophie und Poesie. pgo_479.015 Wenn dies Werk dazu dient, der geistigen Entwickelung unserer Nation in diesem pgo_479.016 Jahrhundert einen rühmlichen Denkstein zu setzen, der aber nicht, wie Viele wollen, ein pgo_479.017 Grabstein ist; wenn es dazu dient, herrschende Vorurtheile durch Thatsachen zu widerlegen, pgo_479.018 das Jnteresse der Gebildeten, das sich an einzelnen Erscheinungen zersplittert, auf pgo_479.019 die Gesammtheit unseres literarischen Lebens und ihre Bedeutung hinzulenken und dem pgo_479.020 Stolze der Nation auf ihre geistigen Schätze, der sich mehr an die Vergangenheit wendet, pgo_479.021 auch für die Gegenwart einen sichern Halt zu bieten: so ist sein Zweck vollkommen pgo_479.022 erreicht, um so mehr, wenn dies Buch künftigen Literarhistorikern eine willkommene pgo_479.023 Vorarbeit sein sollte. Mag der Verfasser in einzelnen Urtheilen geirrt haben, er weiß, pgo_479.024 daß persönliche Zuneigung oder Abneigung nicht seine Feder führten, sondern nur der pgo_479.025 Ernst der Ueberzeugung und die Begeisterung für das nimmer alternde geistige Leben pgo_479.026 seiner Nation. pgo_479.027 Breslau.Dr. Rudolph Gottschall. pgo_479.028 Die günstige Aufnahme, welche dieses geistreiche Werk sowohl im ganzen gebildeten pgo_479.029 Publikum, als von Seiten der Kritik erfahren hat, überhebt uns jeder weiteren pgo_479.030 Anpreisung. — Wir erlauben uns daher nur wiederholt auf dasselbe aufmerksam zu pgo_479.031 machen und diesen Hinweis durch Anführung einiger Bruchstücke der zahlreichen Beurtheilungen pgo_479.032 desselben zu rechtfertigen. pgo_479.033 Die Blätter für literarische Unterhaltung (Jahrg. 1855. Nr. 35) sprechen sich in einer sehr eingehenden pgo_479.034 Kritik über das in Rede stehende Werk wie folgt aus: »— — Der Hauptvorzug der Gottschall'schen pgo_479.035 Literaturgeschichte und zugleich diejenige Eigenschaft, durch die sie sich fast vor allen übrigen vortheilhaft auszeichnet pgo_479.036 (etwa Mundt's durch ihre »weltliterarischen Tendenzen« außerdem interessante »Geschichte der Literatur pgo_479.037 der Gegenwart« ausgenommen), beruht in dem Muth, der Energie und der Entschiedenheit, womit sich Gottschall pgo_479.038 auf den Boden der modernen Tendenzen stellt, ihn verficht und allen entgegengesetzten Tendenzen streitig pgo_479.039 macht. Nicht als ob wir mit ihm in allen Punkten übereinstimmten oder seine, wie es uns scheint, allzu sanguinischen pgo_479.040 Hoffnungen alle theilten: aber seine Befürwortung dieser Tendenzen ist vollkommen berechtigt, wie pgo_479.041 sie selbst berechtigt sind. Diese Tendenzen haben sich historisch, also nothwendig herausgebildet, sonst wären pgo_479.042 sie überhaupt nicht da; sie sind das Resultat einer Reihe vorhergegangener geistiger, gesellschaftlicher und politischer pgo_479.043 Entwickelungen und Conflicte. Möglich, daß sie nur bloße Gase sind, welche von der Atmosphäre der pgo_479.044 Geschichte allmählich aufgesogen, verarbeitet und verflüchtigt werden; aber die Zeitstoffe, aus denen sie sich pgo_479.045 entwickelten, existiren einmal, und jede Zeit hat ihr eigenes Recht. Andere Literaturgeschichtschreiber haben sie pgo_479.046 bekämpft, andere sie ignorirt; es ist natürlich und wünschenswerth, daß sich auch solche finden, welche für sie pgo_479.047 das Wort ergreifen. Was die Poesie betrifft, so hat bekanntlich Gervinus unserer Zeit die Berechtigung zur pgo_479.048 Cultivirung derselben abgesprochen, wie Savigny ihr die Berechtigung zur Gesetzgebung abgesprochen hat. pgo_479.049 Gervinus will, daß man die Poesie jetzt brach liegen lasse. Das wäre gerade, als ob man sagen wollte: unsere pgo_479.050 Musik taugt Nichts, mithin darf nicht mehr musicirt werden; unsere Politik ist faul, mithin darf keine Politik pgo_479.051 mehr getrieben werden; unsere Civilisation ist verderbt, mithin muß die Civilisation ausgerottet werden. Gottschall's pgo_479.052 Literaturgeschichte ist somit als ein nothwendiges Supplement zur berühmten Gervinus'schen Literaturgeschichte pgo_479.053 und überhaupt als ein berichtigendes Ergänzungswerk der meisten anderen Literaturgeschichten anzusehen, pgo_479.054 wie wegen geistreicher Auffassungs- und Behandlungsweise des Stoffes bestens zu empfehlen. Sie hat pgo_479.055 zwar, wie schon bemerkt, ebenfalls eine etwas vornehme exclusiv literarische, aber, wie wir hinzufügen dürfen, pgo_479.056 zugleich noble, wir möchten sagen chevalereske Haltung.« pgo_479.057 Die Novellenzeitung (1855. Nr. 27. 28 und 1856. Nr. 2) widmet unserm Werke eine durch drei Nummern pgo_479.058 fortlaufende Besprechung. An eine Vergleichung mit der Julian Schmidt'schen Literaturgeschichte pgo_479.059 anknüpfend, sagt dieselbe über das Gottschall'sche Werk: »Es giebt eine Weise, in der es sehr wohl möglich ist, pgo_479.060 die strengste Jntegrität des Charakters, das unantastbarste sittliche Pathos zu vereinigen mit stets bereitwilliger pgo_479.061 Receptivität, mit vielseitigster Hingabe an die Mannichfaltigkeit der Erscheinungen, — das ist die Weise, zu pgo_479.062 »charakterisiren,« und diese ist es, die Gottschall vornehmlich in seiner Literaturgeschichte angewandt hat. Er pgo_479.063 giebt nicht nur Urtheile, er giebt Bilder der literarischen Werke und der schriftstellerischen Persönlichkeiten,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/501
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. E479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/501>, abgerufen am 28.03.2024.