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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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"Frühling" Kleist's zu erinnern scheint, sich aber gerade dadurch von pgo_041.002
ihm unterscheidet, daß wir nicht hier locker zusammenhängende Bilder pgo_041.003
erhalten, sondern die vorüberfliehende Welt der Erscheinung zum Spiegel pgo_041.004
wird für die sittliche Welt. Sehr schön und tief hat auch Goethe dies pgo_041.005
Verhältniß des Menschen zur Natur, das die äußere Welt zum Gedicht pgo_041.006
umzaubert, und damit das Geheimniß der echten dichterischen Beschreibung, pgo_041.007
zugleich in einem herrlichen Muster derselben, in jenem bekannten pgo_041.008
Faustmonolog geschildert:

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Erhab'ner Geist, du gabst mir, gabst mir Alles, pgo_041.010
Warum ich bat! Du hast mir nicht umsonst pgo_041.011
Dein Angesicht im Feuer zugewendet. pgo_041.012
Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, pgo_041.013
Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht pgo_041.014
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur, pgo_041.015
Vergönntest mir, in ihre tiefe Brust, pgo_041.016
Wie in den Busen eines Freund's zu schauen. pgo_041.017
Du führst die Reihe der Lebendigen pgo_041.018
Vor mir vorbei und lehrst mich meine Brüder pgo_041.019
Jm stillen Busch, in Luft und Wasser kennen. pgo_041.020
Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt, pgo_041.021
Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste pgo_041.022
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift, pgo_041.023
Und ihren Fall dumpf hohl der Hügel donnert; pgo_041.024
Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst pgo_041.025
Mich dann mir selbst, und meiner eig'nen Brust pgo_041.026
Geheime tiefe Wunder öffnen sich. pgo_041.027
Und steigt vor meinem Blick der reine Mond pgo_041.028
Besänftigend herüber; schweben mir pgo_041.029
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch, pgo_041.030
Der Vorwelt silberne Gestalten auf, pgo_041.031
Und lindern der Betrachtung strenge Lust.

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Das ist echte dichterische Malerei! Die Natur in Beziehung zum pgo_041.033
Menschen, aber nicht in jener nothwendigen, aus der die Prosa der pgo_041.034
Existenz hervorgeht, sondern in der freien, dichterischen! Hier ist kein pgo_041.035
logischer Zwang, daß das bestimmte Naturbild gerade die bestimmte pgo_041.036
Gedanken- und Empfindungskette hervorruft; es ist die freie Wahl des pgo_041.037
dichterischen Gemüthes!

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Wie verhalten sich nun die Freiligrath'schen Gedichte zu den aufgestellten

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„Frühling“ Kleist's zu erinnern scheint, sich aber gerade dadurch von pgo_041.002
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Und Nachbarstämme quetschend niederstreift, pgo_041.023
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Geheime tiefe Wunder öffnen sich. pgo_041.027
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Das ist echte dichterische Malerei! Die Natur in Beziehung zum pgo_041.033
Menschen, aber nicht in jener nothwendigen, aus der die Prosa der pgo_041.034
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/63>, abgerufen am 19.04.2024.