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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Fünfter Abschnitt.
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Die Poesie und die Prosa.

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Jndem die Poesie mittelst der Sprache ihr Werk in der nicht mehr pgo_057.004
unmittelbaren Sinnlichkeit der Vorstellung aufbaut, steht sie in bedenklicher pgo_057.005
Weise an den Grenzen der Prosa, welche ebenfalls durch die Sprache pgo_057.006
Begriffe, Vorstellungen und Anschauungen zu erwecken sucht. Doch das pgo_057.007
Wesen der dichterischen Weltanschauung und des dichterischen Kunstwerkes pgo_057.008
bestimmen hier alsbald einen tiefbegründeten Unterschied.

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Die Poesie ist älter als die Prosa! Das Gefühl lebte und webte in pgo_057.010
vollständiger Einheit mit der Welt, und das ist der Boden der Dichtkunst, pgo_057.011
welche unentwickelt blieb, wie die unerschlossene Welt, aber doch im dumpfen pgo_057.012
Weben bereits ihr eigenstes Wesen offenbarte. Erst die Analyse des pgo_057.013
Verstandes zerbrach diese Einheit. Sie zeigte den Zusammenhang der pgo_057.014
Erscheinungen, stellte auf die eine Seite das Object, auf die andere den pgo_057.015
Begriff, und löste das Object in seine Eigenschaften, den Begriff in seine pgo_057.016
Unterschiede auf. Jm Leben selbst aber schuf sie eine Fülle praktischer pgo_057.017
Zwecke, ließ den Willen schwanken zwischen Pflicht und Genuß und pgo_057.018
in neuen oder stets erneuerten Anläufen nach seinen Zielen ringen. Die pgo_057.019
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und der Erscheinung, des Strebens und des Zweckes, oder sie geht nicht pgo_057.021
einmal dazu fort, nimmt die Dinge, wie sie sind, respectirt ihre ganze pgo_057.022
Zufälligkeit und versenkt sich mit Behagen in die von allen Jdeeen verlassene pgo_057.023
Wirklichkeit. Das ist der Standpunkt des gewöhnlichen Lebens, pgo_057.024
jene Analyse der Standpunkt der erkennenden Wissenschaft. Für die pgo_057.025
Poesie nun scheint zunächst der Jnhalt derselbe; auch sie hat es mit pgo_057.026
Erscheinungen und Gedanken zu thun; aber ihr Wesen ist die lebendige pgo_057.027
Einheit von beiden; sie entkleidet die Erscheinung ihrer Zufälligkeit, indem pgo_057.028
sie dieselbe als Spiegel der Jdee auffaßt; sie feiert die ewige Menschwerdung pgo_057.029
des Gedankens, indem sie denselben in die Fülle der Erscheinung pgo_057.030
untertaucht. Die Atomistik des Verstandes liegt ihr ebenso fern, wie pgo_057.031
die praktische Rastlosigkeit des Willens. Sie läuft nicht an einer Reihe pgo_057.032
endlicher Zwecke dahin. Sie schaut die einzelne Erscheinung sub specie pgo_057.033
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/79>, abgerufen am 24.04.2024.