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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Stadt oder die eines Zeitalters schreibt. Dagegen ist das Kunstwerk des pgo_062.002
Historikers für den Dichter selbst wieder Material; er beginnt damit eine pgo_062.003
neue Sichtung, aber nicht im Jnteresse thatsächlicher Aufklärung, im pgo_062.004
Dienste der Wahrheit, sondern im Jnteresse künstlerischer Gestaltung, im pgo_062.005
Dienste der Schönheit. Wie weit er dabei die Wahrheit berücksichtigen pgo_062.006
muß, ist eine Frage, die uns noch später beschäftigen wird. Keineswegs pgo_062.007
kann er die Erzstufen des Historikers benutzen; er muß ihr Silber los pgo_062.008
schmelzen für seine Kunst. Die Breite der Kulturprosa, die ewigen pgo_062.009
Wiederholungen des Geschehens, die nüchternen ursächlichen Zusammenhänge pgo_062.010
sind ihm ein Gräuel -- er sammelt alles Zerfahrne in einem pgo_062.011
großen Brennpunkte des Willens und der Empfindung! Wie wesentlich pgo_062.012
ist für den Historiker der Neuzeit die Darlegung diplomatischer Aktenstücke, pgo_062.013
der Nachweis des Ganges der Cabinetspolitik! Wie unbrauchbar pgo_062.014
aber für den Dichter ist das seelenlose Schreiberwesen, selbst wo es die pgo_062.015
Geschicke der Völker entscheidet! Er muß die Politik aus dem todten pgo_062.016
Spiele des Verstandes und völkerrechtlicher Beweisführung in die Seele pgo_062.017
eines Helden hinüberretten, der seinen entscheidenden Willen in sie hineinlegt! pgo_062.018
Wie wichtig ist für den Geschichtschreiber die friedliche Entwickelung pgo_062.019
des modernen Verfassungslebens! Welcher Dichter der Welt aber könnte pgo_062.020
z. B. die Geschichte des süddeutschen Constitutionalismus poetisch behandeln! pgo_062.021
Oder wer die finanziellen Ursachen der französischen Revolution, pgo_062.022
die Thiers und Louis Blanc so ausführlich darlegen, als dramatisches pgo_062.023
Motiv benutzen, oder die Assignaten im Gesange eines Epos dichterisch pgo_062.024
verklären? Da war freilich Homer glücklich, dessen Münze nicht pgo_062.025
in papierenen Zeichen, sondern in lebenden Wesen bestand, und der den pgo_062.026
Werth der Rüstungen des Glaukos und Diomedes nur durch die Zahl pgo_062.027
der Rinder bestimmte, für welche sie feil waren. Der Dichter greift aus pgo_062.028
der Geschichte ein Ganzes heraus, das einen nothwendigen Anfang und pgo_062.029
Ende hat; der Historiker verfährt auch hierin willkürlich, er kann die pgo_062.030
Geschichte Roms bis zu Augustus oder bis zu Constantin schreiben -- pgo_062.031
das ist für den Werth seines Werkes gleichgültig. Wo aber der Geschichtschreiber pgo_062.032
verstummt oder die in der Seele der Helden ruhende Begründung pgo_062.033
ihrer Thaten nur andeutet: da tritt der Dichter in sein volles pgo_062.034
Recht, indem er den vollen und ganzen Charakter erfaßt und die That pgo_062.035
aus ihm mit Nothwendigkeit hervorgehn läßt. Das Phlegma der

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Stadt oder die eines Zeitalters schreibt. Dagegen ist das Kunstwerk des pgo_062.002
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verstummt oder die in der Seele der Helden ruhende Begründung pgo_062.033
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/84>, abgerufen am 25.04.2024.