Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_064.001
sehr in äußerlicher Zeitfolge auseinandergezogen um keine dichterische pgo_064.002
Sonne kreist.

pgo_064.003
Noch näher als die Geschichtschreibung scheint die Beredtsamkeit pgo_064.004
an den Grenzen der Poesie zu stehn, wird aber durch die eine große pgo_064.005
Kluft von ihr geschieden, daß das rhetorische Kunstwerk praktische pgo_064.006
Zwecke verfolgt, während das dichterische Selbstzweck ist. Der Redner pgo_064.007
wendet sich stets an den Willen, der Dichter an die Anschauung. pgo_064.008
Der Redner will entweder, wie Demosthenes und Cicero, wenn sie ihre pgo_064.009
Philippiken schleudern, die Gemüther aufregen mit einer bestimmten Wendung pgo_064.010
zur That, oder, wie die berühmten Kanzelredner, sie einladen zur pgo_064.011
Einkehr in sich selbst, zur Buße und Besserung, zu neuer Regelung des pgo_064.012
moralischen Lebens! Wie aber unterscheidet sich eine oraison funebre pgo_064.013
von einem Leichenkarmen? Haben nicht beide den Zweck, den Ruhm pgo_064.014
des Verstorbenen zu preisen? Der Redner darf diesen Zweck unverhüllt pgo_064.015
in den Vordergrund stellen; der Dichter schreibt nur ein schlechtes Gelegenheitsgedicht, pgo_064.016
wenn er hierin seinem Beispiele folgt! Was für den pgo_064.017
Redner Zweck, kann für den Dichter nur Anlaß sein, ein selbstständiges pgo_064.018
Kunstwerk zu gestalten. Ein Lobredner der Sieger bei den isthmischen pgo_064.019
Spielen würde die Regeln seiner Kunst schlecht beobachtet haben, wenn pgo_064.020
er wie Pindar in seinen Epinikien vom Lobe der Helden in kühnen Gedankenverbindungen pgo_064.021
abgeschweift wäre. Umgekehrt wäre Pindar nicht pgo_064.022
Griechenland's größter Odendichter gewesen, wenn er dies Lob zum pgo_064.023
Zweck seiner Siegeshymnen gemacht, statt darin nur einen Ausgangspnnkt pgo_064.024
für den Schwung seiner Begeisterung und seiner kunstvoll verschlungenen pgo_064.025
Gedankenreihen zu suchen.

pgo_064.026
Durch den reichen sprachlichen Schmuck grenzt die Prosa des Redners pgo_064.027
dicht an den poetischen Styl, und in der That ist von früheren Schriftstellern pgo_064.028
z. B. von Hugo Blair Rhetorik und Poetik stets im Zusammenhang pgo_064.029
behandelt worden. Doch auch was den Schmuck der Rede betrifft, pgo_064.030
ist der Unterschied unverkennbar. Es giebt Redefiguren, die sich mehr pgo_064.031
an den Willen wenden, und solche, welche mehr die Anschauung vor pgo_064.032
Augen haben. Erstere dienen nur dazu, der Rede größeren Nachdruck zu pgo_064.033
geben, mit größerer Energie auf den bestimmten Zweck hinzuarbeiten, pgo_064.034
während letztere das schöne Bild, das sein eigener Zweck ist, mit größerer pgo_064.035
Lebhaftigkeit vor die Seele zaubern. Deshalb sind alle grammatischen

pgo_064.001
sehr in äußerlicher Zeitfolge auseinandergezogen um keine dichterische pgo_064.002
Sonne kreist.

pgo_064.003
Noch näher als die Geschichtschreibung scheint die Beredtsamkeit pgo_064.004
an den Grenzen der Poesie zu stehn, wird aber durch die eine große pgo_064.005
Kluft von ihr geschieden, daß das rhetorische Kunstwerk praktische pgo_064.006
Zwecke verfolgt, während das dichterische Selbstzweck ist. Der Redner pgo_064.007
wendet sich stets an den Willen, der Dichter an die Anschauung. pgo_064.008
Der Redner will entweder, wie Demosthenes und Cicero, wenn sie ihre pgo_064.009
Philippiken schleudern, die Gemüther aufregen mit einer bestimmten Wendung pgo_064.010
zur That, oder, wie die berühmten Kanzelredner, sie einladen zur pgo_064.011
Einkehr in sich selbst, zur Buße und Besserung, zu neuer Regelung des pgo_064.012
moralischen Lebens! Wie aber unterscheidet sich eine oraison funèbre pgo_064.013
von einem Leichenkarmen? Haben nicht beide den Zweck, den Ruhm pgo_064.014
des Verstorbenen zu preisen? Der Redner darf diesen Zweck unverhüllt pgo_064.015
in den Vordergrund stellen; der Dichter schreibt nur ein schlechtes Gelegenheitsgedicht, pgo_064.016
wenn er hierin seinem Beispiele folgt! Was für den pgo_064.017
Redner Zweck, kann für den Dichter nur Anlaß sein, ein selbstständiges pgo_064.018
Kunstwerk zu gestalten. Ein Lobredner der Sieger bei den isthmischen pgo_064.019
Spielen würde die Regeln seiner Kunst schlecht beobachtet haben, wenn pgo_064.020
er wie Pindar in seinen Epinikien vom Lobe der Helden in kühnen Gedankenverbindungen pgo_064.021
abgeschweift wäre. Umgekehrt wäre Pindar nicht pgo_064.022
Griechenland's größter Odendichter gewesen, wenn er dies Lob zum pgo_064.023
Zweck seiner Siegeshymnen gemacht, statt darin nur einen Ausgangspnnkt pgo_064.024
für den Schwung seiner Begeisterung und seiner kunstvoll verschlungenen pgo_064.025
Gedankenreihen zu suchen.

pgo_064.026
Durch den reichen sprachlichen Schmuck grenzt die Prosa des Redners pgo_064.027
dicht an den poetischen Styl, und in der That ist von früheren Schriftstellern pgo_064.028
z. B. von Hugo Blair Rhetorik und Poetik stets im Zusammenhang pgo_064.029
behandelt worden. Doch auch was den Schmuck der Rede betrifft, pgo_064.030
ist der Unterschied unverkennbar. Es giebt Redefiguren, die sich mehr pgo_064.031
an den Willen wenden, und solche, welche mehr die Anschauung vor pgo_064.032
Augen haben. Erstere dienen nur dazu, der Rede größeren Nachdruck zu pgo_064.033
geben, mit größerer Energie auf den bestimmten Zweck hinzuarbeiten, pgo_064.034
während letztere das schöne Bild, das sein eigener Zweck ist, mit größerer pgo_064.035
Lebhaftigkeit vor die Seele zaubern. Deshalb sind alle grammatischen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0086" n="64"/><lb n="pgo_064.001"/>
sehr in äußerlicher Zeitfolge auseinandergezogen um keine dichterische <lb n="pgo_064.002"/>
Sonne kreist.</p>
              <p><lb n="pgo_064.003"/>
Noch näher als die <hi rendition="#g">Geschichtschreibung</hi> scheint die <hi rendition="#g">Beredtsamkeit</hi> <lb n="pgo_064.004"/>
an den Grenzen der Poesie zu stehn, wird aber durch die eine große <lb n="pgo_064.005"/>
Kluft von ihr geschieden, daß das <hi rendition="#g">rhetorische Kunstwerk</hi> praktische <lb n="pgo_064.006"/>
Zwecke verfolgt, während das <hi rendition="#g">dichterische</hi> Selbstzweck ist. Der Redner <lb n="pgo_064.007"/>
wendet sich stets an den <hi rendition="#g">Willen,</hi> der Dichter an die <hi rendition="#g">Anschauung.</hi> <lb n="pgo_064.008"/>
Der Redner will entweder, wie Demosthenes und Cicero, wenn sie ihre <lb n="pgo_064.009"/>
Philippiken schleudern, die Gemüther aufregen mit einer bestimmten Wendung <lb n="pgo_064.010"/>
zur That, oder, wie die berühmten Kanzelredner, sie einladen zur <lb n="pgo_064.011"/>
Einkehr in sich selbst, zur Buße und Besserung, zu neuer Regelung des <lb n="pgo_064.012"/>
moralischen Lebens! Wie aber unterscheidet sich eine <foreign xml:lang="fra">oraison funèbre</foreign> <lb n="pgo_064.013"/>
von einem Leichenkarmen? Haben nicht beide den Zweck, den Ruhm <lb n="pgo_064.014"/>
des Verstorbenen zu preisen? Der Redner darf diesen Zweck unverhüllt <lb n="pgo_064.015"/>
in den Vordergrund stellen; der Dichter schreibt nur ein schlechtes Gelegenheitsgedicht, <lb n="pgo_064.016"/>
wenn er hierin seinem Beispiele folgt! Was für den <lb n="pgo_064.017"/>
Redner <hi rendition="#g">Zweck,</hi> kann für den Dichter nur <hi rendition="#g">Anlaß</hi> sein, ein selbstständiges <lb n="pgo_064.018"/>
Kunstwerk zu gestalten. Ein Lobredner der Sieger bei den isthmischen <lb n="pgo_064.019"/>
Spielen würde die Regeln seiner Kunst schlecht beobachtet haben, wenn <lb n="pgo_064.020"/>
er wie Pindar in seinen Epinikien vom Lobe der Helden in kühnen Gedankenverbindungen <lb n="pgo_064.021"/>
abgeschweift wäre. Umgekehrt wäre Pindar nicht <lb n="pgo_064.022"/>
Griechenland's größter Odendichter gewesen, wenn er dies Lob zum <lb n="pgo_064.023"/>
Zweck seiner Siegeshymnen gemacht, statt darin nur einen Ausgangspnnkt <lb n="pgo_064.024"/>
für den Schwung seiner Begeisterung und seiner kunstvoll verschlungenen <lb n="pgo_064.025"/>
Gedankenreihen zu suchen.</p>
              <p><lb n="pgo_064.026"/>
Durch den reichen sprachlichen Schmuck grenzt die Prosa des Redners <lb n="pgo_064.027"/>
dicht an den poetischen Styl, und in der That ist von früheren Schriftstellern <lb n="pgo_064.028"/>
z. B. von <hi rendition="#g">Hugo Blair</hi> Rhetorik und Poetik stets im Zusammenhang <lb n="pgo_064.029"/>
behandelt worden. Doch auch was den Schmuck der Rede betrifft, <lb n="pgo_064.030"/>
ist der Unterschied unverkennbar. Es giebt <hi rendition="#g">Redefiguren,</hi> die sich mehr <lb n="pgo_064.031"/>
an den <hi rendition="#g">Willen</hi> wenden, und solche, welche mehr die <hi rendition="#g">Anschauung</hi> vor <lb n="pgo_064.032"/>
Augen haben. Erstere dienen nur dazu, der Rede größeren Nachdruck zu <lb n="pgo_064.033"/>
geben, mit größerer Energie auf den bestimmten Zweck hinzuarbeiten, <lb n="pgo_064.034"/>
während letztere das schöne Bild, das sein eigener Zweck ist, mit größerer <lb n="pgo_064.035"/>
Lebhaftigkeit vor die Seele zaubern. Deshalb sind alle grammatischen
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0086] pgo_064.001 sehr in äußerlicher Zeitfolge auseinandergezogen um keine dichterische pgo_064.002 Sonne kreist. pgo_064.003 Noch näher als die Geschichtschreibung scheint die Beredtsamkeit pgo_064.004 an den Grenzen der Poesie zu stehn, wird aber durch die eine große pgo_064.005 Kluft von ihr geschieden, daß das rhetorische Kunstwerk praktische pgo_064.006 Zwecke verfolgt, während das dichterische Selbstzweck ist. Der Redner pgo_064.007 wendet sich stets an den Willen, der Dichter an die Anschauung. pgo_064.008 Der Redner will entweder, wie Demosthenes und Cicero, wenn sie ihre pgo_064.009 Philippiken schleudern, die Gemüther aufregen mit einer bestimmten Wendung pgo_064.010 zur That, oder, wie die berühmten Kanzelredner, sie einladen zur pgo_064.011 Einkehr in sich selbst, zur Buße und Besserung, zu neuer Regelung des pgo_064.012 moralischen Lebens! Wie aber unterscheidet sich eine oraison funèbre pgo_064.013 von einem Leichenkarmen? Haben nicht beide den Zweck, den Ruhm pgo_064.014 des Verstorbenen zu preisen? Der Redner darf diesen Zweck unverhüllt pgo_064.015 in den Vordergrund stellen; der Dichter schreibt nur ein schlechtes Gelegenheitsgedicht, pgo_064.016 wenn er hierin seinem Beispiele folgt! Was für den pgo_064.017 Redner Zweck, kann für den Dichter nur Anlaß sein, ein selbstständiges pgo_064.018 Kunstwerk zu gestalten. Ein Lobredner der Sieger bei den isthmischen pgo_064.019 Spielen würde die Regeln seiner Kunst schlecht beobachtet haben, wenn pgo_064.020 er wie Pindar in seinen Epinikien vom Lobe der Helden in kühnen Gedankenverbindungen pgo_064.021 abgeschweift wäre. Umgekehrt wäre Pindar nicht pgo_064.022 Griechenland's größter Odendichter gewesen, wenn er dies Lob zum pgo_064.023 Zweck seiner Siegeshymnen gemacht, statt darin nur einen Ausgangspnnkt pgo_064.024 für den Schwung seiner Begeisterung und seiner kunstvoll verschlungenen pgo_064.025 Gedankenreihen zu suchen. pgo_064.026 Durch den reichen sprachlichen Schmuck grenzt die Prosa des Redners pgo_064.027 dicht an den poetischen Styl, und in der That ist von früheren Schriftstellern pgo_064.028 z. B. von Hugo Blair Rhetorik und Poetik stets im Zusammenhang pgo_064.029 behandelt worden. Doch auch was den Schmuck der Rede betrifft, pgo_064.030 ist der Unterschied unverkennbar. Es giebt Redefiguren, die sich mehr pgo_064.031 an den Willen wenden, und solche, welche mehr die Anschauung vor pgo_064.032 Augen haben. Erstere dienen nur dazu, der Rede größeren Nachdruck zu pgo_064.033 geben, mit größerer Energie auf den bestimmten Zweck hinzuarbeiten, pgo_064.034 während letztere das schöne Bild, das sein eigener Zweck ist, mit größerer pgo_064.035 Lebhaftigkeit vor die Seele zaubern. Deshalb sind alle grammatischen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/86
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/86>, abgerufen am 20.04.2024.