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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das dritte Capitel
Vom guten Geschmacke eines
Poeten.

OB es gleich scheint, daß ich im vorigen alle gute Eigen-
schafften eines wahren Poeten erzehlet habe: so ist
doch noch etwas von grosser Wichtigkeit übrig, das
ich in einem besondern Capitel abhandeln will. Es ist in den
neuern Zeiten sehr viel vom guten Geschmacke geredet und
geschrieben worden. Man hat ihn gewissen Dichtern zuge-
standen, andern aber abgesprochen; und endlich gar die Regel
gemacht: Ein Poet müsse einen guten Geschmack haben.
Diese Regel nun nach meiner Art zu erklären und zu erwei-
sen, das ist meine Absicht in diesem Hauptstücke.

Jch will mich hier nicht in die historische Untersuchung ein-
lassen, wenn und wo das Wort Geschmack zuerst in dieser
neuen Bedeutung genommen worden. Das haben schon
andre vor mir gethan, deren Schrifften ich mit Vergnügen
und Vortheil gelesen habe: darunter ich denn des Hrn. Geh.
Secr. Königs, und Hrn. Bodmers aus Zürich dahin gehörige
Sachen, nahmhafft machen und loben muß. Jch weiß auch,
daß in Franckreich nur neulich der Pater Dubosc mit seinem
Wiedersacher verschiedene Streitigkeiten darüber gehabt.
Man kan diese Redensart nunmehro vor eine bekannte und
völlig eingeführte halten; und man darf sich nur angelegen
seyn lassen, sie im rechten Verstande zu gebrauchen. Diesen
aber zu bestimmen, das ist nicht eines jeden Werck. Wem
es damit gelingen soll, der muß erstlich die Kräffte der mensch-
lichen Seelen, und sonderlich die Wirckungen des empfinden-
den und urtheilenden Verstandes aus der Weltweisheit ver-
stehen. Hernach muß er eine Fertigkeit in der Vernunftlehre
besitzen, so, daß er fähig ist sich von jedem vorkommenden
Dinge und Ausdrucke, nach den logischen Regeln eine gute

Erklä-
G 2


Das dritte Capitel
Vom guten Geſchmacke eines
Poeten.

OB es gleich ſcheint, daß ich im vorigen alle gute Eigen-
ſchafften eines wahren Poeten erzehlet habe: ſo iſt
doch noch etwas von groſſer Wichtigkeit uͤbrig, das
ich in einem beſondern Capitel abhandeln will. Es iſt in den
neuern Zeiten ſehr viel vom guten Geſchmacke geredet und
geſchrieben worden. Man hat ihn gewiſſen Dichtern zuge-
ſtanden, andern aber abgeſprochen; und endlich gar die Regel
gemacht: Ein Poet muͤſſe einen guten Geſchmack haben.
Dieſe Regel nun nach meiner Art zu erklaͤren und zu erwei-
ſen, das iſt meine Abſicht in dieſem Hauptſtuͤcke.

Jch will mich hier nicht in die hiſtoriſche Unterſuchung ein-
laſſen, wenn und wo das Wort Geſchmack zuerſt in dieſer
neuen Bedeutung genommen worden. Das haben ſchon
andre vor mir gethan, deren Schrifften ich mit Vergnuͤgen
und Vortheil geleſen habe: darunter ich denn des Hrn. Geh.
Secr. Koͤnigs, und Hrn. Bodmers aus Zuͤrich dahin gehoͤrige
Sachen, nahmhafft machen und loben muß. Jch weiß auch,
daß in Franckreich nur neulich der Pater Duboſc mit ſeinem
Wiederſacher verſchiedene Streitigkeiten daruͤber gehabt.
Man kan dieſe Redensart nunmehro vor eine bekannte und
voͤllig eingefuͤhrte halten; und man darf ſich nur angelegen
ſeyn laſſen, ſie im rechten Verſtande zu gebrauchen. Dieſen
aber zu beſtimmen, das iſt nicht eines jeden Werck. Wem
es damit gelingen ſoll, der muß erſtlich die Kraͤffte der menſch-
lichen Seelen, und ſonderlich die Wirckungen des empfinden-
den und urtheilenden Verſtandes aus der Weltweisheit ver-
ſtehen. Hernach muß er eine Fertigkeit in der Vernunftlehre
beſitzen, ſo, daß er faͤhig iſt ſich von jedem vorkommenden
Dinge und Ausdrucke, nach den logiſchen Regeln eine gute

Erklaͤ-
G 2
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[99/0127] Das dritte Capitel Vom guten Geſchmacke eines Poeten. OB es gleich ſcheint, daß ich im vorigen alle gute Eigen- ſchafften eines wahren Poeten erzehlet habe: ſo iſt doch noch etwas von groſſer Wichtigkeit uͤbrig, das ich in einem beſondern Capitel abhandeln will. Es iſt in den neuern Zeiten ſehr viel vom guten Geſchmacke geredet und geſchrieben worden. Man hat ihn gewiſſen Dichtern zuge- ſtanden, andern aber abgeſprochen; und endlich gar die Regel gemacht: Ein Poet muͤſſe einen guten Geſchmack haben. Dieſe Regel nun nach meiner Art zu erklaͤren und zu erwei- ſen, das iſt meine Abſicht in dieſem Hauptſtuͤcke. Jch will mich hier nicht in die hiſtoriſche Unterſuchung ein- laſſen, wenn und wo das Wort Geſchmack zuerſt in dieſer neuen Bedeutung genommen worden. Das haben ſchon andre vor mir gethan, deren Schrifften ich mit Vergnuͤgen und Vortheil geleſen habe: darunter ich denn des Hrn. Geh. Secr. Koͤnigs, und Hrn. Bodmers aus Zuͤrich dahin gehoͤrige Sachen, nahmhafft machen und loben muß. Jch weiß auch, daß in Franckreich nur neulich der Pater Duboſc mit ſeinem Wiederſacher verſchiedene Streitigkeiten daruͤber gehabt. Man kan dieſe Redensart nunmehro vor eine bekannte und voͤllig eingefuͤhrte halten; und man darf ſich nur angelegen ſeyn laſſen, ſie im rechten Verſtande zu gebrauchen. Dieſen aber zu beſtimmen, das iſt nicht eines jeden Werck. Wem es damit gelingen ſoll, der muß erſtlich die Kraͤffte der menſch- lichen Seelen, und ſonderlich die Wirckungen des empfinden- den und urtheilenden Verſtandes aus der Weltweisheit ver- ſtehen. Hernach muß er eine Fertigkeit in der Vernunftlehre beſitzen, ſo, daß er faͤhig iſt ſich von jedem vorkommenden Dinge und Ausdrucke, nach den logiſchen Regeln eine gute Erklaͤ- G 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/127>, abgerufen am 29.03.2024.