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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das III. Capitel
Erklärung zu machen. Endlich muß er sich auch in der Poesie,
oder andern Künsten, davon etwa die Rede ist, wohl geübet
haben. Ohne diese drey Stücke, wird die Beschreibung des
guten Geschmacks nicht zum besten gerathen können. Da
es nun den Franzosen, die bisher davon geschrieben, entweder
an zweyen, oder doch zum wenigsten an einem von diesen drey
Stücken gefehlet hat: so ist es auch kein Wunder, daß sie
weder mit einander eins werden, noch uns Deutschen ein bes-
seres Licht haben anzünden können. Unsre oberwehnte Lan-
desleute haben die Sache mit viel grösserer Geschicklichkeit
angegriffen; und sie eben deswegen auch weit gründlicher
auszuführen vermocht.

Zum ersten setze ich zum voraus, der Geschmack im ge-
meinen und eigentlichen Verstande, sey die Fähigkeit oder
Gabe unsrer Zunge, die verschiedenen Wirckungen zu em-
finden, so von Speise und Tranck auf derselben verursachet
werden, wenn sie davon sattsam berühret und durchdrungen
worden. Unsre Sinne, insoweit sie cörperlichen Gliedmassen
zukommen, sind nichts als Leidenschafften, und empfangen
also nur die Eindrückungen der ausser uns befindlichen Dinge.
Daher eigne ich auch der Zunge bloß die Geschicklichkeit zu
empfinden zu, welche nur was leidendes ist; da hergegen eine
Krafft was thätiges angezeiget hätte. Diese habe ich vor
den Geschmack vorbehalten, in so weit er in der Seele ist,
den ich also eine Krafft des Gemüthes nenne, vermöge welcher
dasselbe die von Speise und Tranck in den schwammigten
Fäserchen der Zunge verursachten Veränderungen, sich vor-
stellen und ihren Unterscheid beurtheilen kan.

Man wird mir ferner leicht einräumen, daß die Begriffe
und Vorstellungen, so wir uns von dem besondern Geschmacke
verschiedener Speisen machen, bey aller ihrer Klarheit den-
noch nichts deutliches in sich haben. Wir sind bey gesunden
Tagen gar wohl im Stande das süsse vom bittern, das saure
von dem herben u. s. w. zu unterscheiden, und jedes mit seinem
Nahmen zu nennen: Also sind die Begriffe von diesen Wör-
tern bey uns nicht dunckel. Wir sind hingegen nicht vermö-
gend das allergeringste zu antworten; wenn man uns fragt,

worinn

Das III. Capitel
Erklaͤrung zu machen. Endlich muß er ſich auch in der Poeſie,
oder andern Kuͤnſten, davon etwa die Rede iſt, wohl geuͤbet
haben. Ohne dieſe drey Stuͤcke, wird die Beſchreibung des
guten Geſchmacks nicht zum beſten gerathen koͤnnen. Da
es nun den Franzoſen, die bisher davon geſchrieben, entweder
an zweyen, oder doch zum wenigſten an einem von dieſen drey
Stuͤcken gefehlet hat: ſo iſt es auch kein Wunder, daß ſie
weder mit einander eins werden, noch uns Deutſchen ein beſ-
ſeres Licht haben anzuͤnden koͤnnen. Unſre oberwehnte Lan-
desleute haben die Sache mit viel groͤſſerer Geſchicklichkeit
angegriffen; und ſie eben deswegen auch weit gruͤndlicher
auszufuͤhren vermocht.

Zum erſten ſetze ich zum voraus, der Geſchmack im ge-
meinen und eigentlichen Verſtande, ſey die Faͤhigkeit oder
Gabe unſrer Zunge, die verſchiedenen Wirckungen zu em-
finden, ſo von Speiſe und Tranck auf derſelben verurſachet
werden, wenn ſie davon ſattſam beruͤhret und durchdrungen
worden. Unſre Sinne, inſoweit ſie coͤrperlichen Gliedmaſſen
zukommen, ſind nichts als Leidenſchafften, und empfangen
alſo nur die Eindruͤckungen der auſſer uns befindlichen Dinge.
Daher eigne ich auch der Zunge bloß die Geſchicklichkeit zu
empfinden zu, welche nur was leidendes iſt; da hergegen eine
Krafft was thaͤtiges angezeiget haͤtte. Dieſe habe ich vor
den Geſchmack vorbehalten, in ſo weit er in der Seele iſt,
den ich alſo eine Krafft des Gemuͤthes nenne, vermoͤge welcher
daſſelbe die von Speiſe und Tranck in den ſchwammigten
Faͤſerchen der Zunge verurſachten Veraͤnderungen, ſich vor-
ſtellen und ihren Unterſcheid beurtheilen kan.

Man wird mir ferner leicht einraͤumen, daß die Begriffe
und Vorſtellungen, ſo wir uns von dem beſondern Geſchmacke
verſchiedener Speiſen machen, bey aller ihrer Klarheit den-
noch nichts deutliches in ſich haben. Wir ſind bey geſunden
Tagen gar wohl im Stande das ſuͤſſe vom bittern, das ſaure
von dem herben u. ſ. w. zu unterſcheiden, und jedes mit ſeinem
Nahmen zu nennen: Alſo ſind die Begriffe von dieſen Woͤr-
tern bey uns nicht dunckel. Wir ſind hingegen nicht vermoͤ-
gend das allergeringſte zu antworten; wenn man uns fragt,

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[100/0128] Das III. Capitel Erklaͤrung zu machen. Endlich muß er ſich auch in der Poeſie, oder andern Kuͤnſten, davon etwa die Rede iſt, wohl geuͤbet haben. Ohne dieſe drey Stuͤcke, wird die Beſchreibung des guten Geſchmacks nicht zum beſten gerathen koͤnnen. Da es nun den Franzoſen, die bisher davon geſchrieben, entweder an zweyen, oder doch zum wenigſten an einem von dieſen drey Stuͤcken gefehlet hat: ſo iſt es auch kein Wunder, daß ſie weder mit einander eins werden, noch uns Deutſchen ein beſ- ſeres Licht haben anzuͤnden koͤnnen. Unſre oberwehnte Lan- desleute haben die Sache mit viel groͤſſerer Geſchicklichkeit angegriffen; und ſie eben deswegen auch weit gruͤndlicher auszufuͤhren vermocht. Zum erſten ſetze ich zum voraus, der Geſchmack im ge- meinen und eigentlichen Verſtande, ſey die Faͤhigkeit oder Gabe unſrer Zunge, die verſchiedenen Wirckungen zu em- finden, ſo von Speiſe und Tranck auf derſelben verurſachet werden, wenn ſie davon ſattſam beruͤhret und durchdrungen worden. Unſre Sinne, inſoweit ſie coͤrperlichen Gliedmaſſen zukommen, ſind nichts als Leidenſchafften, und empfangen alſo nur die Eindruͤckungen der auſſer uns befindlichen Dinge. Daher eigne ich auch der Zunge bloß die Geſchicklichkeit zu empfinden zu, welche nur was leidendes iſt; da hergegen eine Krafft was thaͤtiges angezeiget haͤtte. Dieſe habe ich vor den Geſchmack vorbehalten, in ſo weit er in der Seele iſt, den ich alſo eine Krafft des Gemuͤthes nenne, vermoͤge welcher daſſelbe die von Speiſe und Tranck in den ſchwammigten Faͤſerchen der Zunge verurſachten Veraͤnderungen, ſich vor- ſtellen und ihren Unterſcheid beurtheilen kan. Man wird mir ferner leicht einraͤumen, daß die Begriffe und Vorſtellungen, ſo wir uns von dem beſondern Geſchmacke verſchiedener Speiſen machen, bey aller ihrer Klarheit den- noch nichts deutliches in ſich haben. Wir ſind bey geſunden Tagen gar wohl im Stande das ſuͤſſe vom bittern, das ſaure von dem herben u. ſ. w. zu unterſcheiden, und jedes mit ſeinem Nahmen zu nennen: Alſo ſind die Begriffe von dieſen Woͤr- tern bey uns nicht dunckel. Wir ſind hingegen nicht vermoͤ- gend das allergeringſte zu antworten; wenn man uns fragt, worinn

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/128>, abgerufen am 19.04.2024.