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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das siebende Capitel.
Von poetischen Worten.

WJr haben oben gewiesen, daß ein Dichter seine
Nachahmung durch eine harmonische und wohlklin-
gende Rede ins Werck richte. Die Rede ist ein
Ausdruck unsrer Gedancken, der durch Worte geschiehet,
welche entweder einzeln, oder mit andern zusammen ge-
nommen ihre Bedeutungen haben. Diese letztern be-
kommen den Nahmen der Redens-Arten, und davon wird
in dem folgenden Capitel gehandelt werden. Hier will ich
nur von der erstern Gattung handeln, und theils ihren man-
nigfaltigen Unterscheid, theils ihren vernünftigen Gebrauch
in der Poesie zeigen.

Vors erste ist es bekannt, daß die Sprachverständigen
in der deutschen Sprache so wohl als in der Lateinischen, ach-
terley Gattungen von Wörtern bemercket, die zur Ausdrü-
ckung und Verbindung unsrer Gedancken nöthig sind. Wir
haben Nennwörter, womit wir theils die Sachen theils
ihre Eigenschafften anzeigen, z. E. Kopf, Hand, Buch, ge-
lehrt, geschickt, gründlich, u. d. gl. Wir haben Vorwör-
ter,
die anstatt der vorigen gebraucht werden können, um
gewisse Wiederholungen zu ersparen. Z. E. Jch, du, er;
der, die, das, dieser, diese, dieses, u. s. w. Wir haben
Hauptwörter, um das Thun oder Leiden gewisser Dinge zu
bedeuten: als schreiben, lesen, hören, lernen, u. d. gl. und
die werden wieder in ihre Classen abgetheilet. Wir haben
Mittelwörter, die von den vorigen etwas, und von den
Nennwörtern auch etwas an sich haben, und also zwischen
beyden das Mittel halten. Z. E. Das Wort verworfener
deutet erstlich an ein vergangenes Leiden, so einer Sache, die
verworfen worden, wiederfahren: hernach aber auch die Ei-
genschafft, z. E. eines schlechten Reimes: Ein verworfener
Reim. Wir haben ferner Neben-Wörter, dadurch die

Be-




Das ſiebende Capitel.
Von poetiſchen Worten.

WJr haben oben gewieſen, daß ein Dichter ſeine
Nachahmung durch eine harmoniſche und wohlklin-
gende Rede ins Werck richte. Die Rede iſt ein
Ausdruck unſrer Gedancken, der durch Worte geſchiehet,
welche entweder einzeln, oder mit andern zuſammen ge-
nommen ihre Bedeutungen haben. Dieſe letztern be-
kommen den Nahmen der Redens-Arten, und davon wird
in dem folgenden Capitel gehandelt werden. Hier will ich
nur von der erſtern Gattung handeln, und theils ihren man-
nigfaltigen Unterſcheid, theils ihren vernuͤnftigen Gebrauch
in der Poeſie zeigen.

Vors erſte iſt es bekannt, daß die Sprachverſtaͤndigen
in der deutſchen Sprache ſo wohl als in der Lateiniſchen, ach-
terley Gattungen von Woͤrtern bemercket, die zur Ausdruͤ-
ckung und Verbindung unſrer Gedancken noͤthig ſind. Wir
haben Nennwoͤrter, womit wir theils die Sachen theils
ihre Eigenſchafften anzeigen, z. E. Kopf, Hand, Buch, ge-
lehrt, geſchickt, gruͤndlich, u. d. gl. Wir haben Vorwoͤr-
ter,
die anſtatt der vorigen gebraucht werden koͤnnen, um
gewiſſe Wiederholungen zu erſparen. Z. E. Jch, du, er;
der, die, das, dieſer, dieſe, dieſes, u. ſ. w. Wir haben
Hauptwoͤrter, um das Thun oder Leiden gewiſſer Dinge zu
bedeuten: als ſchreiben, leſen, hoͤren, lernen, u. d. gl. und
die werden wieder in ihre Claſſen abgetheilet. Wir haben
Mittelwoͤrter, die von den vorigen etwas, und von den
Nennwoͤrtern auch etwas an ſich haben, und alſo zwiſchen
beyden das Mittel halten. Z. E. Das Wort verworfener
deutet erſtlich an ein vergangenes Leiden, ſo einer Sache, die
verworfen worden, wiederfahren: hernach aber auch die Ei-
genſchafft, z. E. eines ſchlechten Reimes: Ein verworfener
Reim. Wir haben ferner Neben-Woͤrter, dadurch die

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[187/0215] Das ſiebende Capitel. Von poetiſchen Worten. WJr haben oben gewieſen, daß ein Dichter ſeine Nachahmung durch eine harmoniſche und wohlklin- gende Rede ins Werck richte. Die Rede iſt ein Ausdruck unſrer Gedancken, der durch Worte geſchiehet, welche entweder einzeln, oder mit andern zuſammen ge- nommen ihre Bedeutungen haben. Dieſe letztern be- kommen den Nahmen der Redens-Arten, und davon wird in dem folgenden Capitel gehandelt werden. Hier will ich nur von der erſtern Gattung handeln, und theils ihren man- nigfaltigen Unterſcheid, theils ihren vernuͤnftigen Gebrauch in der Poeſie zeigen. Vors erſte iſt es bekannt, daß die Sprachverſtaͤndigen in der deutſchen Sprache ſo wohl als in der Lateiniſchen, ach- terley Gattungen von Woͤrtern bemercket, die zur Ausdruͤ- ckung und Verbindung unſrer Gedancken noͤthig ſind. Wir haben Nennwoͤrter, womit wir theils die Sachen theils ihre Eigenſchafften anzeigen, z. E. Kopf, Hand, Buch, ge- lehrt, geſchickt, gruͤndlich, u. d. gl. Wir haben Vorwoͤr- ter, die anſtatt der vorigen gebraucht werden koͤnnen, um gewiſſe Wiederholungen zu erſparen. Z. E. Jch, du, er; der, die, das, dieſer, dieſe, dieſes, u. ſ. w. Wir haben Hauptwoͤrter, um das Thun oder Leiden gewiſſer Dinge zu bedeuten: als ſchreiben, leſen, hoͤren, lernen, u. d. gl. und die werden wieder in ihre Claſſen abgetheilet. Wir haben Mittelwoͤrter, die von den vorigen etwas, und von den Nennwoͤrtern auch etwas an ſich haben, und alſo zwiſchen beyden das Mittel halten. Z. E. Das Wort verworfener deutet erſtlich an ein vergangenes Leiden, ſo einer Sache, die verworfen worden, wiederfahren: hernach aber auch die Ei- genſchafft, z. E. eines ſchlechten Reimes: Ein verworfener Reim. Wir haben ferner Neben-Woͤrter, dadurch die Be-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/215>, abgerufen am 29.03.2024.