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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das IX. Capitel

Endlich dienet die Versetzung zuweilen, den Leser eines
Gedichtes recht aufmercksam zu machen, weil man von den
Neben-Umständen den Anfang macht, und den Haupt-
Satz allererst nachfolgen läst. Z. E. Besser fängt seine Ru-
hestatt der Liebe so an:

Jn diesen brennenden und schwühlen Sommertagen
Ließ Choris sich einmahl in ihren Garten tragen.

Hier hebt er von der Zeit an, da er doch von der Person
hätte den Anfang machen können. So sagt auch Canitz:

Jn meinem Schülerstand, auf den bestaubten Bäncken
Hub sich die Kurtzweil an.

Da hätte er ja von der Kurtzweil anfangen können; allein
diese Versetzung setzt den Leser in Aufmercksamkeit, und
macht ihn begierig zu wissen, was denn in dem Schüler-
stande geschehen seyn werde? Uberhaupt könnte man die
Worte Horatii hieher ziehen, wiewohl er sie in andrer Ab-
sicht geschrieben:

In medias res,
Non secus ac notas, Auditorem rapit.

Doch verlange ich mit dem allen der unverschämten
Frechheit der Sprach-Verderber keinesweges Thür und
Thor zu öffnen, die ohne Verstand und Nachsinnen das
unterste zuoberst kehren, und doch vor Poeten angesehen seyn
wollen. Die Versetzungen sind nicht aus Noth erlaubt,
um das Sylbenmaaß vollzustopfen; dieß gehört vor die elen-
desten Stümper: Sondern nur alsdann steht es frey, sich
derselben zu bedienen, wenn ein besondrer Nachdruck, oder
eine neue Schönheit des Ausdruckes daraus entsteht. Wer
dieses nicht inacht nimmt, und ohne Scheu wieder die Na-
tur unsrer Mundart alle Regeln der Sprachkunst aus den
Augen setzt, der verdient ein Pohl oder Wende genennt
zu werden, der nicht einmahl Deutsch kan, geschweige daß
er ein Poet zu heissen verdienen sollte. Denn das werden
lauter soloecismi und akurologiai, die kein Kenner seiner
Muttersprache ertragen kan. Eben so seltsam würde es
seyn, wenn man die Wortfügung fremder Sprachen in der

unsri-
Das IX. Capitel

Endlich dienet die Verſetzung zuweilen, den Leſer eines
Gedichtes recht aufmerckſam zu machen, weil man von den
Neben-Umſtaͤnden den Anfang macht, und den Haupt-
Satz allererſt nachfolgen laͤſt. Z. E. Beſſer faͤngt ſeine Ru-
heſtatt der Liebe ſo an:

Jn dieſen brennenden und ſchwuͤhlen Sommertagen
Ließ Choris ſich einmahl in ihren Garten tragen.

Hier hebt er von der Zeit an, da er doch von der Perſon
haͤtte den Anfang machen koͤnnen. So ſagt auch Canitz:

Jn meinem Schuͤlerſtand, auf den beſtaubten Baͤncken
Hub ſich die Kurtzweil an.

Da haͤtte er ja von der Kurtzweil anfangen koͤnnen; allein
dieſe Verſetzung ſetzt den Leſer in Aufmerckſamkeit, und
macht ihn begierig zu wiſſen, was denn in dem Schuͤler-
ſtande geſchehen ſeyn werde? Uberhaupt koͤnnte man die
Worte Horatii hieher ziehen, wiewohl er ſie in andrer Ab-
ſicht geſchrieben:

In medias res,
Non ſecus ac notas, Auditorem rapit.

Doch verlange ich mit dem allen der unverſchaͤmten
Frechheit der Sprach-Verderber keinesweges Thuͤr und
Thor zu oͤffnen, die ohne Verſtand und Nachſinnen das
unterſte zuoberſt kehren, und doch vor Poeten angeſehen ſeyn
wollen. Die Verſetzungen ſind nicht aus Noth erlaubt,
um das Sylbenmaaß vollzuſtopfen; dieß gehoͤrt vor die elen-
deſten Stuͤmper: Sondern nur alsdann ſteht es frey, ſich
derſelben zu bedienen, wenn ein beſondrer Nachdruck, oder
eine neue Schoͤnheit des Ausdruckes daraus entſteht. Wer
dieſes nicht inacht nimmt, und ohne Scheu wieder die Na-
tur unſrer Mundart alle Regeln der Sprachkunſt aus den
Augen ſetzt, der verdient ein Pohl oder Wende genennt
zu werden, der nicht einmahl Deutſch kan, geſchweige daß
er ein Poet zu heiſſen verdienen ſollte. Denn das werden
lauter ſoloeciſmi und ἀκυρολογίαι, die kein Kenner ſeiner
Mutterſprache ertragen kan. Eben ſo ſeltſam wuͤrde es
ſeyn, wenn man die Wortfuͤgung fremder Sprachen in der

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[256/0284] Das IX. Capitel Endlich dienet die Verſetzung zuweilen, den Leſer eines Gedichtes recht aufmerckſam zu machen, weil man von den Neben-Umſtaͤnden den Anfang macht, und den Haupt- Satz allererſt nachfolgen laͤſt. Z. E. Beſſer faͤngt ſeine Ru- heſtatt der Liebe ſo an: Jn dieſen brennenden und ſchwuͤhlen Sommertagen Ließ Choris ſich einmahl in ihren Garten tragen. Hier hebt er von der Zeit an, da er doch von der Perſon haͤtte den Anfang machen koͤnnen. So ſagt auch Canitz: Jn meinem Schuͤlerſtand, auf den beſtaubten Baͤncken Hub ſich die Kurtzweil an. Da haͤtte er ja von der Kurtzweil anfangen koͤnnen; allein dieſe Verſetzung ſetzt den Leſer in Aufmerckſamkeit, und macht ihn begierig zu wiſſen, was denn in dem Schuͤler- ſtande geſchehen ſeyn werde? Uberhaupt koͤnnte man die Worte Horatii hieher ziehen, wiewohl er ſie in andrer Ab- ſicht geſchrieben: In medias res, Non ſecus ac notas, Auditorem rapit. Doch verlange ich mit dem allen der unverſchaͤmten Frechheit der Sprach-Verderber keinesweges Thuͤr und Thor zu oͤffnen, die ohne Verſtand und Nachſinnen das unterſte zuoberſt kehren, und doch vor Poeten angeſehen ſeyn wollen. Die Verſetzungen ſind nicht aus Noth erlaubt, um das Sylbenmaaß vollzuſtopfen; dieß gehoͤrt vor die elen- deſten Stuͤmper: Sondern nur alsdann ſteht es frey, ſich derſelben zu bedienen, wenn ein beſondrer Nachdruck, oder eine neue Schoͤnheit des Ausdruckes daraus entſteht. Wer dieſes nicht inacht nimmt, und ohne Scheu wieder die Na- tur unſrer Mundart alle Regeln der Sprachkunſt aus den Augen ſetzt, der verdient ein Pohl oder Wende genennt zu werden, der nicht einmahl Deutſch kan, geſchweige daß er ein Poet zu heiſſen verdienen ſollte. Denn das werden lauter ſoloeciſmi und ἀκυρολογίαι, die kein Kenner ſeiner Mutterſprache ertragen kan. Eben ſo ſeltſam wuͤrde es ſeyn, wenn man die Wortfuͤgung fremder Sprachen in der unſri-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/284>, abgerufen am 29.03.2024.