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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von der poetischen Schreibart.
so ist es leicht daraus zu muthmassen, wie dieselbe von der
prosaischen unterschieden seyn werde: nehmlich nicht in
Worten allein; sondern hauptsächlich in der Art zu den-
cken. Wäre jenes, so könte man zur Noth aus einem poe-
tischen Lexico, dergleichen Bergmann, Männling u. a. m.
geschrieben; oder im Lateinischen aus einem Gradu ad Par-
nassum
ein Poet werden. Man dörfte nur an statt der
prosaischen Redensarten poetische Blümchen darinn auf-
schlagen, und dieselben zusammen flicken: so würde ein Ge-
dichte daraus werden. Aber weit gefehlt, daß dieses an-
gehen würde; so könnte höchstens nicht anders, als eine
poetische Mißgeburt daraus entstehen. Jn einer solchen
Schrifft würde hernach manches stehen, so ihr Verfasser
niemahls gedacht hätte; Kurtz, es würde gar keine Schreib-
art heraus kommen, weil dieses Geflicke kein Ausdruck
von dem Verstande seines Meisters heißen, kein Vortrag
zusammen hangender Gedancken seyn würde.

Will also ein Poet poetisch schreiben, so muß er auch
zuvor poetisch dencken lernen. Wie dencken aber die Poe-
ten, wird man vielleicht fragen? Machen sie es nicht eben
so, als andere Leute, die einen gesunden Verstand und ihre
fünf Sinne haben? oder will man ihnen etwa was göttli-
ches beymessen? Die Frage kan und muß mit einigem Un-
terscheide beantwortet werden. Vors erste dencken die gu-
ten Poeten freylich eben so, als andere vernünftige Leute.
Thäten sie dieses nicht, so würden sie rasend oder närrisch
seyn; und Democritus würde Recht haben, wenn er zur
Poesie nur unsinnige Köpfe erfordert hat, wie Horatz be-
richtet:

- - - Excludit sanos Helicone Poetas,
Democritus.
- -

Nein, ein wahrer Dichter muß ja so wohl als ein ander
Mensch, ja noch mehr als alle, die sich nicht ins Schreiben
mischen, eine gesunde Vernunft, richtige Begriffe von Din-
gen, und eine grosse Kenntniß von Künsten und Wissen-
schafften haben. Nach dieser seiner Gemüths-Beschaffen-

heit

Von der poetiſchen Schreibart.
ſo iſt es leicht daraus zu muthmaſſen, wie dieſelbe von der
proſaiſchen unterſchieden ſeyn werde: nehmlich nicht in
Worten allein; ſondern hauptſaͤchlich in der Art zu den-
cken. Waͤre jenes, ſo koͤnte man zur Noth aus einem poe-
tiſchen Lexico, dergleichen Bergmann, Maͤnnling u. a. m.
geſchrieben; oder im Lateiniſchen aus einem Gradu ad Par-
naſſum
ein Poet werden. Man doͤrfte nur an ſtatt der
proſaiſchen Redensarten poetiſche Bluͤmchen darinn auf-
ſchlagen, und dieſelben zuſammen flicken: ſo wuͤrde ein Ge-
dichte daraus werden. Aber weit gefehlt, daß dieſes an-
gehen wuͤrde; ſo koͤnnte hoͤchſtens nicht anders, als eine
poetiſche Mißgeburt daraus entſtehen. Jn einer ſolchen
Schrifft wuͤrde hernach manches ſtehen, ſo ihr Verfaſſer
niemahls gedacht haͤtte; Kurtz, es wuͤrde gar keine Schreib-
art heraus kommen, weil dieſes Geflicke kein Ausdruck
von dem Verſtande ſeines Meiſters heißen, kein Vortrag
zuſammen hangender Gedancken ſeyn wuͤrde.

Will alſo ein Poet poetiſch ſchreiben, ſo muß er auch
zuvor poetiſch dencken lernen. Wie dencken aber die Poe-
ten, wird man vielleicht fragen? Machen ſie es nicht eben
ſo, als andere Leute, die einen geſunden Verſtand und ihre
fuͤnf Sinne haben? oder will man ihnen etwa was goͤttli-
ches beymeſſen? Die Frage kan und muß mit einigem Un-
terſcheide beantwortet werden. Vors erſte dencken die gu-
ten Poeten freylich eben ſo, als andere vernuͤnftige Leute.
Thaͤten ſie dieſes nicht, ſo wuͤrden ſie raſend oder naͤrriſch
ſeyn; und Democritus wuͤrde Recht haben, wenn er zur
Poeſie nur unſinnige Koͤpfe erfordert hat, wie Horatz be-
richtet:

‒ ‒ ‒ Excludit ſanos Helicone Poetas,
Democritus.
‒ ‒

Nein, ein wahrer Dichter muß ja ſo wohl als ein ander
Menſch, ja noch mehr als alle, die ſich nicht ins Schreiben
miſchen, eine geſunde Vernunft, richtige Begriffe von Din-
gen, und eine groſſe Kenntniß von Kuͤnſten und Wiſſen-
ſchafften haben. Nach dieſer ſeiner Gemuͤths-Beſchaffen-

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[283/0311] Von der poetiſchen Schreibart. ſo iſt es leicht daraus zu muthmaſſen, wie dieſelbe von der proſaiſchen unterſchieden ſeyn werde: nehmlich nicht in Worten allein; ſondern hauptſaͤchlich in der Art zu den- cken. Waͤre jenes, ſo koͤnte man zur Noth aus einem poe- tiſchen Lexico, dergleichen Bergmann, Maͤnnling u. a. m. geſchrieben; oder im Lateiniſchen aus einem Gradu ad Par- naſſum ein Poet werden. Man doͤrfte nur an ſtatt der proſaiſchen Redensarten poetiſche Bluͤmchen darinn auf- ſchlagen, und dieſelben zuſammen flicken: ſo wuͤrde ein Ge- dichte daraus werden. Aber weit gefehlt, daß dieſes an- gehen wuͤrde; ſo koͤnnte hoͤchſtens nicht anders, als eine poetiſche Mißgeburt daraus entſtehen. Jn einer ſolchen Schrifft wuͤrde hernach manches ſtehen, ſo ihr Verfaſſer niemahls gedacht haͤtte; Kurtz, es wuͤrde gar keine Schreib- art heraus kommen, weil dieſes Geflicke kein Ausdruck von dem Verſtande ſeines Meiſters heißen, kein Vortrag zuſammen hangender Gedancken ſeyn wuͤrde. Will alſo ein Poet poetiſch ſchreiben, ſo muß er auch zuvor poetiſch dencken lernen. Wie dencken aber die Poe- ten, wird man vielleicht fragen? Machen ſie es nicht eben ſo, als andere Leute, die einen geſunden Verſtand und ihre fuͤnf Sinne haben? oder will man ihnen etwa was goͤttli- ches beymeſſen? Die Frage kan und muß mit einigem Un- terſcheide beantwortet werden. Vors erſte dencken die gu- ten Poeten freylich eben ſo, als andere vernuͤnftige Leute. Thaͤten ſie dieſes nicht, ſo wuͤrden ſie raſend oder naͤrriſch ſeyn; und Democritus wuͤrde Recht haben, wenn er zur Poeſie nur unſinnige Koͤpfe erfordert hat, wie Horatz be- richtet: ‒ ‒ ‒ Excludit ſanos Helicone Poetas, Democritus. ‒ ‒ Nein, ein wahrer Dichter muß ja ſo wohl als ein ander Menſch, ja noch mehr als alle, die ſich nicht ins Schreiben miſchen, eine geſunde Vernunft, richtige Begriffe von Din- gen, und eine groſſe Kenntniß von Kuͤnſten und Wiſſen- ſchafften haben. Nach dieſer ſeiner Gemuͤths-Beſchaffen- heit

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/311>, abgerufen am 24.04.2024.