Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Des II Theils I Capitel
Selbst den lauten Nachtigallen,
Giebt noch kein belaubter Wald
Den gewünschten Aufenthalt,
Echo hört sie noch nicht schallen.
Auch die Schwalben sind noch scheu,
Die sich sonst auf unsern Gassen,
Häufig sehn und hören lassen,
Durch ihr zwitscherndes Geschrey:
Bey des Nordwinds rauhem Wehen,
Muß ihr Nest noch ledig stehen.
Selbst der hart gewehnten Lerche,
Der beliebten Sängerin,
Fällt die Lust zum Singen hin:
Und wie zittern unsre Störche?
Die gereut ihr früher Zug,
Wollen fast den Rückweg nehmen;
Denn sie scheinen sich zu schämen,
Weil ihr übereilter Flüg,
Eh der Winter noch verschwunden,
Sich in Sachsen eingefunden.
Auch das Volck verbuhlter Frösche,
Das in lauen Sümpfen heckt,
Wird diß Jahr zu spät erweckt;
Denn wo hört man ihr Gewäsche?
Wo sie noch auf Schnee und Eis,
Mit den kalten Füssen hüpfen;
Können sie sich nicht verknüpfen;
Wieder der Natur Geheiß:
Ja sie werden unterdessen
Jhr Gekröchze gar vergessen.
Bey dem allen, werthen Beyde,
Dienet euch der Ehestand,
Durch ein sanftes Liebes-Band,
Statt der schönsten Frühlings-Freude.
Jhr verlachet Schnee und Frost;
Wenn der Lentz gleich aussen bliebe,
Labt euch doch die Lust der Liebe,
Als die beste Frühlings-Kost.
Küßt kein Zephir die Narcissen;
Amor lehrt euch besser küssen.
Trotzet
Des II Theils I Capitel
Selbſt den lauten Nachtigallen,
Giebt noch kein belaubter Wald
Den gewuͤnſchten Aufenthalt,
Echo hoͤrt ſie noch nicht ſchallen.
Auch die Schwalben ſind noch ſcheu,
Die ſich ſonſt auf unſern Gaſſen,
Haͤufig ſehn und hoͤren laſſen,
Durch ihr zwitſcherndes Geſchrey:
Bey des Nordwinds rauhem Wehen,
Muß ihr Neſt noch ledig ſtehen.
Selbſt der hart gewehnten Lerche,
Der beliebten Saͤngerin,
Faͤllt die Luſt zum Singen hin:
Und wie zittern unſre Stoͤrche?
Die gereut ihr fruͤher Zug,
Wollen faſt den Ruͤckweg nehmen;
Denn ſie ſcheinen ſich zu ſchaͤmen,
Weil ihr uͤbereilter Fluͤg,
Eh der Winter noch verſchwunden,
Sich in Sachſen eingefunden.
Auch das Volck verbuhlter Froͤſche,
Das in lauen Suͤmpfen heckt,
Wird diß Jahr zu ſpaͤt erweckt;
Denn wo hoͤrt man ihr Gewaͤſche?
Wo ſie noch auf Schnee und Eis,
Mit den kalten Fuͤſſen huͤpfen;
Koͤnnen ſie ſich nicht verknuͤpfen;
Wieder der Natur Geheiß:
Ja ſie werden unterdeſſen
Jhr Gekroͤchze gar vergeſſen.
Bey dem allen, werthen Beyde,
Dienet euch der Eheſtand,
Durch ein ſanftes Liebes-Band,
Statt der ſchoͤnſten Fruͤhlings-Freude.
Jhr verlachet Schnee und Froſt;
Wenn der Lentz gleich auſſen bliebe,
Labt euch doch die Luſt der Liebe,
Als die beſte Fruͤhlings-Koſt.
Kuͤßt kein Zephir die Narciſſen;
Amor lehrt euch beſſer kuͤſſen.
Trotzet
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <lg type="poem">
              <pb facs="#f0372" n="344"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Des <hi rendition="#aq">II</hi> Theils <hi rendition="#aq">I</hi> Capitel</hi> </fw><lb/>
              <lg n="35">
                <l>Selb&#x017F;t den lauten Nachtigallen,</l><lb/>
                <l>Giebt noch kein belaubter Wald</l><lb/>
                <l>Den gewu&#x0364;n&#x017F;chten Aufenthalt,</l><lb/>
                <l>Echo ho&#x0364;rt &#x017F;ie noch nicht &#x017F;challen.</l><lb/>
                <l>Auch die Schwalben &#x017F;ind noch &#x017F;cheu,</l><lb/>
                <l>Die &#x017F;ich &#x017F;on&#x017F;t auf un&#x017F;ern Ga&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
                <l>Ha&#x0364;ufig &#x017F;ehn und ho&#x0364;ren la&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
                <l>Durch ihr zwit&#x017F;cherndes Ge&#x017F;chrey:</l><lb/>
                <l>Bey des Nordwinds rauhem Wehen,</l><lb/>
                <l>Muß ihr Ne&#x017F;t noch ledig &#x017F;tehen.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="36">
                <l>Selb&#x017F;t der hart gewehnten Lerche,</l><lb/>
                <l>Der beliebten Sa&#x0364;ngerin,</l><lb/>
                <l>Fa&#x0364;llt die Lu&#x017F;t zum Singen hin:</l><lb/>
                <l>Und wie zittern un&#x017F;re Sto&#x0364;rche?</l><lb/>
                <l>Die gereut ihr fru&#x0364;her Zug,</l><lb/>
                <l>Wollen fa&#x017F;t den Ru&#x0364;ckweg nehmen;</l><lb/>
                <l>Denn &#x017F;ie &#x017F;cheinen &#x017F;ich zu &#x017F;cha&#x0364;men,</l><lb/>
                <l>Weil ihr u&#x0364;bereilter Flu&#x0364;g,</l><lb/>
                <l>Eh der Winter noch ver&#x017F;chwunden,</l><lb/>
                <l>Sich in Sach&#x017F;en eingefunden.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="37">
                <l>Auch das Volck verbuhlter Fro&#x0364;&#x017F;che,</l><lb/>
                <l>Das in lauen Su&#x0364;mpfen heckt,</l><lb/>
                <l>Wird diß Jahr zu &#x017F;pa&#x0364;t erweckt;</l><lb/>
                <l>Denn wo ho&#x0364;rt man ihr Gewa&#x0364;&#x017F;che?</l><lb/>
                <l>Wo &#x017F;ie noch auf Schnee und Eis,</l><lb/>
                <l>Mit den kalten Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en hu&#x0364;pfen;</l><lb/>
                <l>Ko&#x0364;nnen &#x017F;ie &#x017F;ich nicht verknu&#x0364;pfen;</l><lb/>
                <l>Wieder der Natur Geheiß:</l><lb/>
                <l>Ja &#x017F;ie werden unterde&#x017F;&#x017F;en</l><lb/>
                <l>Jhr Gekro&#x0364;chze gar verge&#x017F;&#x017F;en.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="38">
                <l>Bey dem allen, werthen Beyde,</l><lb/>
                <l>Dienet euch der Ehe&#x017F;tand,</l><lb/>
                <l>Durch ein &#x017F;anftes Liebes-Band,</l><lb/>
                <l>Statt der &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Fru&#x0364;hlings-Freude.</l><lb/>
                <l>Jhr verlachet Schnee und Fro&#x017F;t;</l><lb/>
                <l>Wenn der Lentz gleich au&#x017F;&#x017F;en bliebe,</l><lb/>
                <l>Labt euch doch die Lu&#x017F;t der Liebe,</l><lb/>
                <l>Als die be&#x017F;te Fru&#x0364;hlings-Ko&#x017F;t.</l><lb/>
                <l>Ku&#x0364;ßt kein Zephir die Narci&#x017F;&#x017F;en;</l><lb/>
                <l>Amor lehrt euch be&#x017F;&#x017F;er ku&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.</l>
              </lg><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">Trotzet</fw><lb/>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[344/0372] Des II Theils I Capitel Selbſt den lauten Nachtigallen, Giebt noch kein belaubter Wald Den gewuͤnſchten Aufenthalt, Echo hoͤrt ſie noch nicht ſchallen. Auch die Schwalben ſind noch ſcheu, Die ſich ſonſt auf unſern Gaſſen, Haͤufig ſehn und hoͤren laſſen, Durch ihr zwitſcherndes Geſchrey: Bey des Nordwinds rauhem Wehen, Muß ihr Neſt noch ledig ſtehen. Selbſt der hart gewehnten Lerche, Der beliebten Saͤngerin, Faͤllt die Luſt zum Singen hin: Und wie zittern unſre Stoͤrche? Die gereut ihr fruͤher Zug, Wollen faſt den Ruͤckweg nehmen; Denn ſie ſcheinen ſich zu ſchaͤmen, Weil ihr uͤbereilter Fluͤg, Eh der Winter noch verſchwunden, Sich in Sachſen eingefunden. Auch das Volck verbuhlter Froͤſche, Das in lauen Suͤmpfen heckt, Wird diß Jahr zu ſpaͤt erweckt; Denn wo hoͤrt man ihr Gewaͤſche? Wo ſie noch auf Schnee und Eis, Mit den kalten Fuͤſſen huͤpfen; Koͤnnen ſie ſich nicht verknuͤpfen; Wieder der Natur Geheiß: Ja ſie werden unterdeſſen Jhr Gekroͤchze gar vergeſſen. Bey dem allen, werthen Beyde, Dienet euch der Eheſtand, Durch ein ſanftes Liebes-Band, Statt der ſchoͤnſten Fruͤhlings-Freude. Jhr verlachet Schnee und Froſt; Wenn der Lentz gleich auſſen bliebe, Labt euch doch die Luſt der Liebe, Als die beſte Fruͤhlings-Koſt. Kuͤßt kein Zephir die Narciſſen; Amor lehrt euch beſſer kuͤſſen. Trotzet

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/372
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/372>, abgerufen am 29.03.2024.