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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Elegien.
II. Elegie
an eine Wittwe über den Hintritt ihres Ehegatten
im Nahmen seiner Mutter und Brüder.
BEtrübte!
nehme sie dieß Thränen-volle Blatt,
Mit ruhigem Gemüth und Trost-erfülltem Hertzen,
Und da der Schlag nebst ihr auch uns betroffen hat;
So höre sie auch jetzt den Ausbruch unsrer Schmertzen.
Sie klaget hier vielleicht das lange Säumen an,
Und zweifelt ob wir Theil an ihrer Trauer nehmen:
Allein, wo Hand und Kiel sich recht erklären kan,
So soll sie deutlich sehn, wie hertzlich wir uns grämen.
Wir kommen freylich spät und zeigen unser Leid,
Nachdem man unsern Sohn und Bruder längst begraben:
Und scheinen dergestalt von aller Traurigkeit,
Die sie so starck gerührt, fast nichts gefühlt zu haben.
Allein es scheint nur bloß. Wir trauren in der That,
Beweinen noch den Fall, der sie und uns betroffen.
Wir suchen selber noch vor unsern Kummer Rath,
Und wissen doch bißher noch wenig Trost zu hoffen.
Kaum ward die Trauer-Post uns neulich kund gethan,
So drang das Schrecken uns in die bestürtzten Seelen.
Bald klagten wir verwirrt das harte Schicksal an,
Bald nahten wir im Geist zum Staube seiner Hölen.
Ach Höchster! sprach der Mund, wie hefftig schlägest du!
Warum erblaßte der im Sommer seiner Jahre?
Du schlägst ein treues Weib, und schlägst auch uns dazu,
Und legst uns alle fast auf des Erblaßten Bahre.
So war der eigne Gram der meisten Klagen Ziel,
So musten sich bisher die matten Hertzen kräncken;
Je schwerer nun der Fall uns allen selber fiel,
Je schwerer ließ sichs thun, an fremde Noth zu dencken.
Noch mehr, gebeugte Frau! Wir waren sehr getrennt,
Die Oerter schieden uns durch weit entlegne Gräntzen:
Wer die Entfernung nun, und ihre Wirckung kennt,
Wird, wenn wir ja gefehlt, den Mangel leicht ergäntzen.
Kaum ließ der herbe Schmertz allmählich etwas nach,
Kaum wollte sich die Brust der Traurigkeit entschlagen,
Als eine neue Post von frischer Trauer sprach,
Als man noch einen Sarg zu früh ins Grab getragen.
Er-
D d 3
Von Elegien.
II. Elegie
an eine Wittwe uͤber den Hintritt ihres Ehegatten
im Nahmen ſeiner Mutter und Bruͤder.
BEtruͤbte!
nehme ſie dieß Thraͤnen-volle Blatt,
Mit ruhigem Gemuͤth und Troſt-erfuͤlltem Hertzen,
Und da der Schlag nebſt ihr auch uns betroffen hat;
So hoͤre ſie auch jetzt den Ausbruch unſrer Schmertzen.
Sie klaget hier vielleicht das lange Saͤumen an,
Und zweifelt ob wir Theil an ihrer Trauer nehmen:
Allein, wo Hand und Kiel ſich recht erklaͤren kan,
So ſoll ſie deutlich ſehn, wie hertzlich wir uns graͤmen.
Wir kommen freylich ſpaͤt und zeigen unſer Leid,
Nachdem man unſern Sohn und Bruder laͤngſt begraben:
Und ſcheinen dergeſtalt von aller Traurigkeit,
Die ſie ſo ſtarck geruͤhrt, faſt nichts gefuͤhlt zu haben.
Allein es ſcheint nur bloß. Wir trauren in der That,
Beweinen noch den Fall, der ſie und uns betroffen.
Wir ſuchen ſelber noch vor unſern Kummer Rath,
Und wiſſen doch bißher noch wenig Troſt zu hoffen.
Kaum ward die Trauer-Poſt uns neulich kund gethan,
So drang das Schrecken uns in die beſtuͤrtzten Seelen.
Bald klagten wir verwirrt das harte Schickſal an,
Bald nahten wir im Geiſt zum Staube ſeiner Hoͤlen.
Ach Hoͤchſter! ſprach der Mund, wie hefftig ſchlaͤgeſt du!
Warum erblaßte der im Sommer ſeiner Jahre?
Du ſchlaͤgſt ein treues Weib, und ſchlaͤgſt auch uns dazu,
Und legſt uns alle faſt auf des Erblaßten Bahre.
So war der eigne Gram der meiſten Klagen Ziel,
So muſten ſich bisher die matten Hertzen kraͤncken;
Je ſchwerer nun der Fall uns allen ſelber fiel,
Je ſchwerer ließ ſichs thun, an fremde Noth zu dencken.
Noch mehr, gebeugte Frau! Wir waren ſehr getrennt,
Die Oerter ſchieden uns durch weit entlegne Graͤntzen:
Wer die Entfernung nun, und ihre Wirckung kennt,
Wird, wenn wir ja gefehlt, den Mangel leicht ergaͤntzen.
Kaum ließ der herbe Schmertz allmaͤhlich etwas nach,
Kaum wollte ſich die Bruſt der Traurigkeit entſchlagen,
Als eine neue Poſt von friſcher Trauer ſprach,
Als man noch einen Sarg zu fruͤh ins Grab getragen.
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[421/0449] Von Elegien. II. Elegie an eine Wittwe uͤber den Hintritt ihres Ehegatten im Nahmen ſeiner Mutter und Bruͤder. BEtruͤbte! nehme ſie dieß Thraͤnen-volle Blatt, Mit ruhigem Gemuͤth und Troſt-erfuͤlltem Hertzen, Und da der Schlag nebſt ihr auch uns betroffen hat; So hoͤre ſie auch jetzt den Ausbruch unſrer Schmertzen. Sie klaget hier vielleicht das lange Saͤumen an, Und zweifelt ob wir Theil an ihrer Trauer nehmen: Allein, wo Hand und Kiel ſich recht erklaͤren kan, So ſoll ſie deutlich ſehn, wie hertzlich wir uns graͤmen. Wir kommen freylich ſpaͤt und zeigen unſer Leid, Nachdem man unſern Sohn und Bruder laͤngſt begraben: Und ſcheinen dergeſtalt von aller Traurigkeit, Die ſie ſo ſtarck geruͤhrt, faſt nichts gefuͤhlt zu haben. Allein es ſcheint nur bloß. Wir trauren in der That, Beweinen noch den Fall, der ſie und uns betroffen. Wir ſuchen ſelber noch vor unſern Kummer Rath, Und wiſſen doch bißher noch wenig Troſt zu hoffen. Kaum ward die Trauer-Poſt uns neulich kund gethan, So drang das Schrecken uns in die beſtuͤrtzten Seelen. Bald klagten wir verwirrt das harte Schickſal an, Bald nahten wir im Geiſt zum Staube ſeiner Hoͤlen. Ach Hoͤchſter! ſprach der Mund, wie hefftig ſchlaͤgeſt du! Warum erblaßte der im Sommer ſeiner Jahre? Du ſchlaͤgſt ein treues Weib, und ſchlaͤgſt auch uns dazu, Und legſt uns alle faſt auf des Erblaßten Bahre. So war der eigne Gram der meiſten Klagen Ziel, So muſten ſich bisher die matten Hertzen kraͤncken; Je ſchwerer nun der Fall uns allen ſelber fiel, Je ſchwerer ließ ſichs thun, an fremde Noth zu dencken. Noch mehr, gebeugte Frau! Wir waren ſehr getrennt, Die Oerter ſchieden uns durch weit entlegne Graͤntzen: Wer die Entfernung nun, und ihre Wirckung kennt, Wird, wenn wir ja gefehlt, den Mangel leicht ergaͤntzen. Kaum ließ der herbe Schmertz allmaͤhlich etwas nach, Kaum wollte ſich die Bruſt der Traurigkeit entſchlagen, Als eine neue Poſt von friſcher Trauer ſprach, Als man noch einen Sarg zu fruͤh ins Grab getragen. Er- D d 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/449>, abgerufen am 28.03.2024.