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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Sinn- und Schertzgedichten.
hirnes seyn. Allein wenn das wäre, so müste man die Mei-
ster der Ouodlibete in den Tollhäusern suchen. Und was
sollen auch Einfälle ohne Absicht und Verstand? Wenn ei-
ne Zeile nur deßwegen da steht, daß sie abgeschmackt seyn
soll, kan sie ein jeder Vernünftiger leicht entbehren. Es
muß kein Wort vergebens darinn seyn, sondern eine kleine
Satire in sich schliessen: Gesetzt, daß sie nur von wenigen
Personen, so um die Sache wissen, verstanden würde.
Jch habe mein Lebenlang nur das einzige gemacht, so ich
zur Probe mit zu diesem Capitel fügen will.

Sinngedichte.
I. Unterschrifft zu Sr. Hochedelgeb. Magnificentz, des
Herrn Bürgerm. und itz. Z. Präsidenten der Stadt
Danzig, Hn. von Diesseldorfs Kupferbilde.
WEr Ernst und Huld zugleich in diesem Bilde sieht,
Aus dieser Augen Blitz der Pallas hohes Wesen,
Der Themis scharfen Geist aus Mund und Stirn gelesen,
Wer die Gelindigkeit, die Herzen an sich zieht,
Und dann den Muth bemerckt, davor d[ie] Bosheit flieht:
Dem wird so gar der Neid, wiewohl beschämt, bekennen,
Unfehlbar sey der Mann von Diesseldorf zu nennen.
II. Auf eines geschickten Poeten Klage, über den Tod
seiner Geliebten.
WAs man vom Orpheus sagt, muß nur erdichtet seyn:
Denn konnte sein Gesang, wo wir der Fabel glauben,
Sein Weib Euridice dem Höllen-Reiche rauben;
Warum trifft solches nicht zu dieser Zeit noch ein?
Mein Krause sang viel beßre Lieder,
Warum gab ihm der Tod sein ander Hertz nicht wieder?
III. Auf ein Lobgedichte, so jemand auf eine gewisse
Charlotte gemacht.
CHarlottens Bildnis, werther Freund,
Das neulich dir so wohl gelungen,
Hat jederman das Hertz bezwungen,
Jndem es fast zu leben scheint.
Jst durch den bloßen Abriß nun,
Dergleichen Wunder schon geschehen:
Was würde nicht die Schönheit thun,
Sollt ich das Urbild selber sehen?
Nach

Von Sinn- und Schertzgedichten.
hirnes ſeyn. Allein wenn das waͤre, ſo muͤſte man die Mei-
ſter der Ouodlibete in den Tollhaͤuſern ſuchen. Und was
ſollen auch Einfaͤlle ohne Abſicht und Verſtand? Wenn ei-
ne Zeile nur deßwegen da ſteht, daß ſie abgeſchmackt ſeyn
ſoll, kan ſie ein jeder Vernuͤnftiger leicht entbehren. Es
muß kein Wort vergebens darinn ſeyn, ſondern eine kleine
Satire in ſich ſchlieſſen: Geſetzt, daß ſie nur von wenigen
Perſonen, ſo um die Sache wiſſen, verſtanden wuͤrde.
Jch habe mein Lebenlang nur das einzige gemacht, ſo ich
zur Probe mit zu dieſem Capitel fuͤgen will.

Sinngedichte.
I. Unterſchrifft zu Sr. Hochedelgeb. Magnificentz, des
Herrn Buͤrgerm. und itz. Z. Praͤſidenten der Stadt
Danzig, Hn. von Dieſſeldorfs Kupferbilde.
WEr Ernſt und Huld zugleich in dieſem Bilde ſieht,
Aus dieſer Augen Blitz der Pallas hohes Weſen,
Der Themis ſcharfen Geiſt aus Mund und Stirn geleſen,
Wer die Gelindigkeit, die Herzen an ſich zieht,
Und dann den Muth bemerckt, davor d[ie] Bosheit flieht:
Dem wird ſo gar der Neid, wiewohl beſchaͤmt, bekennen,
Unfehlbar ſey der Mann von Dieſſeldorf zu nennen.
II. Auf eines geſchickten Poeten Klage, uͤber den Tod
ſeiner Geliebten.
WAs man vom Orpheus ſagt, muß nur erdichtet ſeyn:
Denn konnte ſein Geſang, wo wir der Fabel glauben,
Sein Weib Euridice dem Hoͤllen-Reiche rauben;
Warum trifft ſolches nicht zu dieſer Zeit noch ein?
Mein Krauſe ſang viel beßre Lieder,
Warum gab ihm der Tod ſein ander Hertz nicht wieder?
III. Auf ein Lobgedichte, ſo jemand auf eine gewiſſe
Charlotte gemacht.
CHarlottens Bildnis, werther Freund,
Das neulich dir ſo wohl gelungen,
Hat jederman das Hertz bezwungen,
Jndem es faſt zu leben ſcheint.
Jſt durch den bloßen Abriß nun,
Dergleichen Wunder ſchon geſchehen:
Was wuͤrde nicht die Schoͤnheit thun,
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Nach
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[493/0521] Von Sinn- und Schertzgedichten. hirnes ſeyn. Allein wenn das waͤre, ſo muͤſte man die Mei- ſter der Ouodlibete in den Tollhaͤuſern ſuchen. Und was ſollen auch Einfaͤlle ohne Abſicht und Verſtand? Wenn ei- ne Zeile nur deßwegen da ſteht, daß ſie abgeſchmackt ſeyn ſoll, kan ſie ein jeder Vernuͤnftiger leicht entbehren. Es muß kein Wort vergebens darinn ſeyn, ſondern eine kleine Satire in ſich ſchlieſſen: Geſetzt, daß ſie nur von wenigen Perſonen, ſo um die Sache wiſſen, verſtanden wuͤrde. Jch habe mein Lebenlang nur das einzige gemacht, ſo ich zur Probe mit zu dieſem Capitel fuͤgen will. Sinngedichte. I. Unterſchrifft zu Sr. Hochedelgeb. Magnificentz, des Herrn Buͤrgerm. und itz. Z. Praͤſidenten der Stadt Danzig, Hn. von Dieſſeldorfs Kupferbilde. WEr Ernſt und Huld zugleich in dieſem Bilde ſieht, Aus dieſer Augen Blitz der Pallas hohes Weſen, Der Themis ſcharfen Geiſt aus Mund und Stirn geleſen, Wer die Gelindigkeit, die Herzen an ſich zieht, Und dann den Muth bemerckt, davor die Bosheit flieht: Dem wird ſo gar der Neid, wiewohl beſchaͤmt, bekennen, Unfehlbar ſey der Mann von Dieſſeldorf zu nennen. II. Auf eines geſchickten Poeten Klage, uͤber den Tod ſeiner Geliebten. WAs man vom Orpheus ſagt, muß nur erdichtet ſeyn: Denn konnte ſein Geſang, wo wir der Fabel glauben, Sein Weib Euridice dem Hoͤllen-Reiche rauben; Warum trifft ſolches nicht zu dieſer Zeit noch ein? Mein Krauſe ſang viel beßre Lieder, Warum gab ihm der Tod ſein ander Hertz nicht wieder? III. Auf ein Lobgedichte, ſo jemand auf eine gewiſſe Charlotte gemacht. CHarlottens Bildnis, werther Freund, Das neulich dir ſo wohl gelungen, Hat jederman das Hertz bezwungen, Jndem es faſt zu leben ſcheint. Jſt durch den bloßen Abriß nun, Dergleichen Wunder ſchon geſchehen: Was wuͤrde nicht die Schoͤnheit thun, Sollt ich das Urbild ſelber ſehen? Nach

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 493. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/521>, abgerufen am 08.10.2024.