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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils VIII Capitel
dem Homer in eine Classe zu setzen pflegten. Was er von
dem Empedocles geurtheilet, müssen wir von allen übrigen
oberwehnten Büchern und Schrifften sagen. Es sind phi-
losophische Abhandlungen gewisser Materien; aber keine
Gedichte, keine Nachahmungen der Natur, sondern Ver-
nunft-Schlüsse, Untersuchungen, Muthmassungen der Welt-
Weisen, Ermahnungen zur Tugend, Trost-Reden im Un-
glück, und so weiter. Also würden denn wohl alle diese Stü-
cke gar nicht in die Poesie laufen, wenn sie in ungebundener
Schreib-Art abgefasset wären: da hingegen die Helden-Ge-
dichte, Romane, Trauer-Spiele, Comödien, Schäfer-
Spiele und überhaupt alle Fabeln, dennoch Gedichte bleiben
und in die Poesie gehören; wenn sie gleich nur in ungebunde-
ner Rede abgefaßt werden. Jndessen, da wir gleichwohl die
Oden, Elegien und Briefe, bloß wegen der poetischen Schreib-
Art, darinn sie abgefaßt werden, zur Poeterey rechnen; ob
gleich selten eine Fabel darinn vorkommt: So können wir
auch diesen grössern Arten poetisch abgefaßter Schrifften hier
die Stelle nicht versagen. Der Ausputz, die Zierrathe, der
geistreiche und angenehme Vortrag der allerernsthafftesten
Lehren, macht daß sie Poesien werden: da sie sonst in ihrem
gehörigen philosophischen Habite, ein sehr mageres und offt
verdrüßliches Ansehen haben würden.

Es fragt sich hier, ob es rathsam sey, dergleichen dogma-
tische Sachen, insonderheit aber Künste und Wissenschafften,
poetisch abzuhandeln. Vor ein paar Jahren kamen in Hol-
land die Lettres Antipoetiques von Madem. Hooghard heraus,
darinn des Boileau Art Poetique mit grosser Hefftigkeit, und
nicht geringer Gründlichkeit angegriffen wurde. Dieses ge-
lehrte Frauenzimmer, oder wer sonst unter ihrem Nahmen
stecken mag, will es durchaus nicht zugeben, daß man voll-
ständige Künste, dergleichen die Dicht-Kunst ist, in einer
poetischen Schreib-Art vortragen solle: weil sie der Mey-
nung ist, die Regeln des Sylben-Maaßes und der Reime, in-
sonderheit aber das Feuer der Poeten, wäre einer systemati-
schen Ordnung und rechten Verbindung der Lehren schnur-
stracks zuwider. Sie untersucht auch in der That den guten

Boi-

Des II Theils VIII Capitel
dem Homer in eine Claſſe zu ſetzen pflegten. Was er von
dem Empedocles geurtheilet, muͤſſen wir von allen uͤbrigen
oberwehnten Buͤchern und Schrifften ſagen. Es ſind phi-
loſophiſche Abhandlungen gewiſſer Materien; aber keine
Gedichte, keine Nachahmungen der Natur, ſondern Ver-
nunft-Schluͤſſe, Unterſuchungen, Muthmaſſungen der Welt-
Weiſen, Ermahnungen zur Tugend, Troſt-Reden im Un-
gluͤck, und ſo weiter. Alſo wuͤrden denn wohl alle dieſe Stuͤ-
cke gar nicht in die Poeſie laufen, wenn ſie in ungebundener
Schreib-Art abgefaſſet waͤren: da hingegen die Helden-Ge-
dichte, Romane, Trauer-Spiele, Comoͤdien, Schaͤfer-
Spiele und uͤberhaupt alle Fabeln, dennoch Gedichte bleiben
und in die Poeſie gehoͤren; wenn ſie gleich nur in ungebunde-
ner Rede abgefaßt werden. Jndeſſen, da wir gleichwohl die
Oden, Elegien und Briefe, bloß wegen der poetiſchen Schreib-
Art, darinn ſie abgefaßt werden, zur Poeterey rechnen; ob
gleich ſelten eine Fabel darinn vorkommt: So koͤnnen wir
auch dieſen groͤſſern Arten poetiſch abgefaßter Schrifften hier
die Stelle nicht verſagen. Der Ausputz, die Zierrathe, der
geiſtreiche und angenehme Vortrag der allerernſthaffteſten
Lehren, macht daß ſie Poeſien werden: da ſie ſonſt in ihrem
gehoͤrigen philoſophiſchen Habite, ein ſehr mageres und offt
verdruͤßliches Anſehen haben wuͤrden.

Es fragt ſich hier, ob es rathſam ſey, dergleichen dogma-
tiſche Sachen, inſonderheit aber Kuͤnſte und Wiſſenſchafften,
poetiſch abzuhandeln. Vor ein paar Jahren kamen in Hol-
land die Lettres Antipoetiques von Madem. Hooghard heraus,
darinn des Boileau Art Poetique mit groſſer Hefftigkeit, und
nicht geringer Gruͤndlichkeit angegriffen wurde. Dieſes ge-
lehrte Frauenzimmer, oder wer ſonſt unter ihrem Nahmen
ſtecken mag, will es durchaus nicht zugeben, daß man voll-
ſtaͤndige Kuͤnſte, dergleichen die Dicht-Kunſt iſt, in einer
poetiſchen Schreib-Art vortragen ſolle: weil ſie der Mey-
nung iſt, die Regeln des Sylben-Maaßes und der Reime, in-
ſonderheit aber das Feuer der Poeten, waͤre einer ſyſtemati-
ſchen Ordnung und rechten Verbindung der Lehren ſchnur-
ſtracks zuwider. Sie unterſucht auch in der That den guten

Boi-
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[514/0542] Des II Theils VIII Capitel dem Homer in eine Claſſe zu ſetzen pflegten. Was er von dem Empedocles geurtheilet, muͤſſen wir von allen uͤbrigen oberwehnten Buͤchern und Schrifften ſagen. Es ſind phi- loſophiſche Abhandlungen gewiſſer Materien; aber keine Gedichte, keine Nachahmungen der Natur, ſondern Ver- nunft-Schluͤſſe, Unterſuchungen, Muthmaſſungen der Welt- Weiſen, Ermahnungen zur Tugend, Troſt-Reden im Un- gluͤck, und ſo weiter. Alſo wuͤrden denn wohl alle dieſe Stuͤ- cke gar nicht in die Poeſie laufen, wenn ſie in ungebundener Schreib-Art abgefaſſet waͤren: da hingegen die Helden-Ge- dichte, Romane, Trauer-Spiele, Comoͤdien, Schaͤfer- Spiele und uͤberhaupt alle Fabeln, dennoch Gedichte bleiben und in die Poeſie gehoͤren; wenn ſie gleich nur in ungebunde- ner Rede abgefaßt werden. Jndeſſen, da wir gleichwohl die Oden, Elegien und Briefe, bloß wegen der poetiſchen Schreib- Art, darinn ſie abgefaßt werden, zur Poeterey rechnen; ob gleich ſelten eine Fabel darinn vorkommt: So koͤnnen wir auch dieſen groͤſſern Arten poetiſch abgefaßter Schrifften hier die Stelle nicht verſagen. Der Ausputz, die Zierrathe, der geiſtreiche und angenehme Vortrag der allerernſthaffteſten Lehren, macht daß ſie Poeſien werden: da ſie ſonſt in ihrem gehoͤrigen philoſophiſchen Habite, ein ſehr mageres und offt verdruͤßliches Anſehen haben wuͤrden. Es fragt ſich hier, ob es rathſam ſey, dergleichen dogma- tiſche Sachen, inſonderheit aber Kuͤnſte und Wiſſenſchafften, poetiſch abzuhandeln. Vor ein paar Jahren kamen in Hol- land die Lettres Antipoetiques von Madem. Hooghard heraus, darinn des Boileau Art Poetique mit groſſer Hefftigkeit, und nicht geringer Gruͤndlichkeit angegriffen wurde. Dieſes ge- lehrte Frauenzimmer, oder wer ſonſt unter ihrem Nahmen ſtecken mag, will es durchaus nicht zugeben, daß man voll- ſtaͤndige Kuͤnſte, dergleichen die Dicht-Kunſt iſt, in einer poetiſchen Schreib-Art vortragen ſolle: weil ſie der Mey- nung iſt, die Regeln des Sylben-Maaßes und der Reime, in- ſonderheit aber das Feuer der Poeten, waͤre einer ſyſtemati- ſchen Ordnung und rechten Verbindung der Lehren ſchnur- ſtracks zuwider. Sie unterſucht auch in der That den guten Boi-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/542>, abgerufen am 28.03.2024.