Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Von dogmatischen Poesien.
Du hast genug gesehn, sprach meine Führerin,
Sie rückte mich davon, und flammte meinen Sinn
Mit ihren Trieben an, was diesen Tag geschehen,
Was ich allda gehört, was ich allda gesehen,
Nach Würden zu erhöhn. Jhr Wollen war ein Muß:
Drum zeigt dieß gantze Blatt den schnell-vollzognen Schluß.
O winckte mir August! wie eifrig wollt ich singen,
Und durch sein Lob allein die Sterblichkeit bezwingen.
Hamartigenia,
Oder:
Lehr-Gedichte vom Ursprunge des Bösen.
Wir Menschen sind verderbt: Der Satz ist offenbar.
Allein wer macht uns wohl der Bosheit Quellen klar?
Wie kommt es, fragt man offt, daß unser Thun und Lassen
Dem Bösen günstig ist, das Gute pflegt zu hassen?
Wer macht die Sterblichen zur Tugend ungeschickt?
Wer hat das Hertz verkehrt, den blöden Sinn verrückt,
Halb blind, halb taub gemacht? O könnt ich dieß ergründen,
Und aller Laster Brunn in wenig Reime binden!
Was ist Verstand und Witz? Ein dick-umnebelt Licht,
Das kaum zwey Spannen weit durch Dampf und Jrrthum bricht.
Vermag sein schwacher Strahl gleich etwas zu erkennen;
So ist sein Wissen doch fast nichts von dem zu nennen,
Was ihm verborgen bleibt. So gar die kleine Zahl
Der Dinge, so er weiß, verstattet nicht einmahl
Sie völlig einzusehn und deutlich zu erblicken.
Die Wahrheit scheint ihr Licht mit Finsterniß zu schmücken,
Und sieht wie Falschheit aus. Allein es scheinet nur;
Die Wahrheit hat nicht Schuld; Der Mensch verläst die Spur.
Es fehlt ihm an Vernunft, das Wahre zu entscheiden,
Dem Jrrthum zu entgehn, das Böse zu vermeiden.
Er kehrt fast alles um. Ein Würfel heißt ein Ey,
Ein Riese wird ein Zwerg. Verkehrte Phantasey!
Die uns den Geist verrückt; das Hertz zur Thorheit zwinget,
Und in die Sclaverey der ärgsten Laster bringet.
Das macht, daß unser Geist in einer Hütten wohnt,
Wo lauter Unvernunft und Lust und Trägheit thront.
Der Cörper ist das Haus, das lauter Zunder heget,
Dadurch der Lüste Glut in volle Flammen schläget.
Die Sinne stellen nie den Kern der Dinge vor,
Ein äusserlicher Schein füllt Auge, Mund und Ohr,
Fast
L l
Von dogmatiſchen Poeſien.
Du haſt genug geſehn, ſprach meine Fuͤhrerin,
Sie ruͤckte mich davon, und flammte meinen Sinn
Mit ihren Trieben an, was dieſen Tag geſchehen,
Was ich allda gehoͤrt, was ich allda geſehen,
Nach Wuͤrden zu erhoͤhn. Jhr Wollen war ein Muß:
Drum zeigt dieß gantze Blatt den ſchnell-vollzognen Schluß.
O winckte mir Auguſt! wie eifrig wollt ich ſingen,
Und durch ſein Lob allein die Sterblichkeit bezwingen.
Hamartigenia,
Oder:
Lehr-Gedichte vom Urſprunge des Boͤſen.
Wir Menſchen ſind verderbt: Der Satz iſt offenbar.
Allein wer macht uns wohl der Bosheit Quellen klar?
Wie kommt es, fragt man offt, daß unſer Thun und Laſſen
Dem Boͤſen guͤnſtig iſt, das Gute pflegt zu haſſen?
Wer macht die Sterblichen zur Tugend ungeſchickt?
Wer hat das Hertz verkehrt, den bloͤden Sinn verruͤckt,
Halb blind, halb taub gemacht? O koͤnnt ich dieß ergruͤnden,
Und aller Laſter Brunn in wenig Reime binden!
Was iſt Verſtand und Witz? Ein dick-umnebelt Licht,
Das kaum zwey Spannen weit durch Dampf und Jrrthum bricht.
Vermag ſein ſchwacher Strahl gleich etwas zu erkennen;
So iſt ſein Wiſſen doch faſt nichts von dem zu nennen,
Was ihm verborgen bleibt. So gar die kleine Zahl
Der Dinge, ſo er weiß, verſtattet nicht einmahl
Sie voͤllig einzuſehn und deutlich zu erblicken.
Die Wahrheit ſcheint ihr Licht mit Finſterniß zu ſchmuͤcken,
Und ſieht wie Falſchheit aus. Allein es ſcheinet nur;
Die Wahrheit hat nicht Schuld; Der Menſch verlaͤſt die Spur.
Es fehlt ihm an Vernunft, das Wahre zu entſcheiden,
Dem Jrrthum zu entgehn, das Boͤſe zu vermeiden.
Er kehrt faſt alles um. Ein Wuͤrfel heißt ein Ey,
Ein Rieſe wird ein Zwerg. Verkehrte Phantaſey!
Die uns den Geiſt verruͤckt; das Hertz zur Thorheit zwinget,
Und in die Sclaverey der aͤrgſten Laſter bringet.
Das macht, daß unſer Geiſt in einer Huͤtten wohnt,
Wo lauter Unvernunft und Luſt und Traͤgheit thront.
Der Coͤrper iſt das Haus, das lauter Zunder heget,
Dadurch der Luͤſte Glut in volle Flammen ſchlaͤget.
Die Sinne ſtellen nie den Kern der Dinge vor,
Ein aͤuſſerlicher Schein fuͤllt Auge, Mund und Ohr,
Faſt
L l
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0557" n="529"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Von dogmati&#x017F;chen Poe&#x017F;ien.</hi> </fw><lb/>
            <lg n="40">
              <l>Du ha&#x017F;t genug ge&#x017F;ehn, &#x017F;prach meine Fu&#x0364;hrerin,</l><lb/>
              <l>Sie ru&#x0364;ckte mich davon, und flammte meinen Sinn</l><lb/>
              <l>Mit ihren Trieben an, was die&#x017F;en Tag ge&#x017F;chehen,</l><lb/>
              <l>Was ich allda geho&#x0364;rt, was ich allda ge&#x017F;ehen,</l><lb/>
              <l>Nach Wu&#x0364;rden zu erho&#x0364;hn. Jhr Wollen war ein Muß:</l><lb/>
              <l>Drum zeigt dieß gantze Blatt den &#x017F;chnell-vollzognen Schluß.</l><lb/>
              <l>O winckte mir Augu&#x017F;t! wie eifrig wollt ich &#x017F;ingen,</l><lb/>
              <l>Und durch &#x017F;ein Lob allein die Sterblichkeit bezwingen.</l>
            </lg>
          </lg><lb/>
          <div n="3">
            <lg type="poem">
              <head><hi rendition="#b">Hamartigenia,</hi><lb/>
Oder:<lb/><hi rendition="#b">Lehr-Gedichte vom Ur&#x017F;prunge des Bo&#x0364;&#x017F;en.</hi></head><lb/>
              <lg n="41">
                <l><hi rendition="#in">W</hi>ir Men&#x017F;chen &#x017F;ind verderbt: Der Satz i&#x017F;t offenbar.</l><lb/>
                <l>Allein wer macht uns wohl der Bosheit Quellen klar?</l><lb/>
                <l>Wie kommt es, fragt man offt, daß un&#x017F;er Thun und La&#x017F;&#x017F;en</l><lb/>
                <l>Dem Bo&#x0364;&#x017F;en gu&#x0364;n&#x017F;tig i&#x017F;t, das Gute pflegt zu ha&#x017F;&#x017F;en?</l><lb/>
                <l>Wer macht die Sterblichen zur Tugend unge&#x017F;chickt?</l><lb/>
                <l>Wer hat das Hertz verkehrt, den blo&#x0364;den Sinn verru&#x0364;ckt,</l><lb/>
                <l>Halb blind, halb taub gemacht? O ko&#x0364;nnt ich dieß ergru&#x0364;nden,</l><lb/>
                <l>Und aller La&#x017F;ter Brunn in wenig Reime binden!</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="42">
                <l>Was i&#x017F;t Ver&#x017F;tand und Witz? Ein dick-umnebelt Licht,</l><lb/>
                <l>Das kaum zwey Spannen weit durch Dampf und Jrrthum bricht.</l><lb/>
                <l>Vermag &#x017F;ein &#x017F;chwacher Strahl gleich etwas zu erkennen;</l><lb/>
                <l>So i&#x017F;t &#x017F;ein Wi&#x017F;&#x017F;en doch fa&#x017F;t nichts von dem zu nennen,</l><lb/>
                <l>Was ihm verborgen bleibt. So gar die kleine Zahl</l><lb/>
                <l>Der Dinge, &#x017F;o er weiß, ver&#x017F;tattet nicht einmahl</l><lb/>
                <l>Sie vo&#x0364;llig einzu&#x017F;ehn und deutlich zu erblicken.</l><lb/>
                <l>Die Wahrheit &#x017F;cheint ihr Licht mit Fin&#x017F;terniß zu &#x017F;chmu&#x0364;cken,</l><lb/>
                <l>Und &#x017F;ieht wie Fal&#x017F;chheit aus. Allein es &#x017F;cheinet nur;</l><lb/>
                <l>Die Wahrheit hat nicht Schuld; Der Men&#x017F;ch verla&#x0364;&#x017F;t die Spur.</l><lb/>
                <l>Es fehlt ihm an Vernunft, das Wahre zu ent&#x017F;cheiden,</l><lb/>
                <l>Dem Jrrthum zu entgehn, das Bo&#x0364;&#x017F;e zu vermeiden.</l><lb/>
                <l>Er kehrt fa&#x017F;t alles um. Ein Wu&#x0364;rfel heißt ein Ey,</l><lb/>
                <l>Ein Rie&#x017F;e wird ein Zwerg. Verkehrte Phanta&#x017F;ey!</l><lb/>
                <l>Die uns den Gei&#x017F;t verru&#x0364;ckt; das Hertz zur Thorheit zwinget,</l><lb/>
                <l>Und in die Sclaverey der a&#x0364;rg&#x017F;ten La&#x017F;ter bringet.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="43">
                <l>Das macht, daß un&#x017F;er Gei&#x017F;t in einer Hu&#x0364;tten wohnt,</l><lb/>
                <l>Wo lauter Unvernunft und Lu&#x017F;t und Tra&#x0364;gheit thront.</l><lb/>
                <l>Der Co&#x0364;rper i&#x017F;t das Haus, das lauter Zunder heget,</l><lb/>
                <l>Dadurch der Lu&#x0364;&#x017F;te Glut in volle Flammen &#x017F;chla&#x0364;get.</l><lb/>
                <l>Die Sinne &#x017F;tellen nie den Kern der Dinge vor,</l><lb/>
                <l>Ein a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erlicher Schein fu&#x0364;llt Auge, Mund und Ohr,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L l</fw><fw place="bottom" type="catch">Fa&#x017F;t</fw><lb/></l>
              </lg>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[529/0557] Von dogmatiſchen Poeſien. Du haſt genug geſehn, ſprach meine Fuͤhrerin, Sie ruͤckte mich davon, und flammte meinen Sinn Mit ihren Trieben an, was dieſen Tag geſchehen, Was ich allda gehoͤrt, was ich allda geſehen, Nach Wuͤrden zu erhoͤhn. Jhr Wollen war ein Muß: Drum zeigt dieß gantze Blatt den ſchnell-vollzognen Schluß. O winckte mir Auguſt! wie eifrig wollt ich ſingen, Und durch ſein Lob allein die Sterblichkeit bezwingen. Hamartigenia, Oder: Lehr-Gedichte vom Urſprunge des Boͤſen. Wir Menſchen ſind verderbt: Der Satz iſt offenbar. Allein wer macht uns wohl der Bosheit Quellen klar? Wie kommt es, fragt man offt, daß unſer Thun und Laſſen Dem Boͤſen guͤnſtig iſt, das Gute pflegt zu haſſen? Wer macht die Sterblichen zur Tugend ungeſchickt? Wer hat das Hertz verkehrt, den bloͤden Sinn verruͤckt, Halb blind, halb taub gemacht? O koͤnnt ich dieß ergruͤnden, Und aller Laſter Brunn in wenig Reime binden! Was iſt Verſtand und Witz? Ein dick-umnebelt Licht, Das kaum zwey Spannen weit durch Dampf und Jrrthum bricht. Vermag ſein ſchwacher Strahl gleich etwas zu erkennen; So iſt ſein Wiſſen doch faſt nichts von dem zu nennen, Was ihm verborgen bleibt. So gar die kleine Zahl Der Dinge, ſo er weiß, verſtattet nicht einmahl Sie voͤllig einzuſehn und deutlich zu erblicken. Die Wahrheit ſcheint ihr Licht mit Finſterniß zu ſchmuͤcken, Und ſieht wie Falſchheit aus. Allein es ſcheinet nur; Die Wahrheit hat nicht Schuld; Der Menſch verlaͤſt die Spur. Es fehlt ihm an Vernunft, das Wahre zu entſcheiden, Dem Jrrthum zu entgehn, das Boͤſe zu vermeiden. Er kehrt faſt alles um. Ein Wuͤrfel heißt ein Ey, Ein Rieſe wird ein Zwerg. Verkehrte Phantaſey! Die uns den Geiſt verruͤckt; das Hertz zur Thorheit zwinget, Und in die Sclaverey der aͤrgſten Laſter bringet. Das macht, daß unſer Geiſt in einer Huͤtten wohnt, Wo lauter Unvernunft und Luſt und Traͤgheit thront. Der Coͤrper iſt das Haus, das lauter Zunder heget, Dadurch der Luͤſte Glut in volle Flammen ſchlaͤget. Die Sinne ſtellen nie den Kern der Dinge vor, Ein aͤuſſerlicher Schein fuͤllt Auge, Mund und Ohr, Faſt L l

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/557
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/557>, abgerufen am 08.10.2024.