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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Tragödien oder Trauerspielen.
sie destobesser zu sehen und zu hören seyn möchten. Damit
man aber dieselben nicht erkennen könnte, salbte er ihnen die
Gesichter mit Hefen, welche ihnen anstatt der Larven dienen
musten. Um dieser Veränderung halber, wird Thespis
vor den Erfinder der Tragödie gehalten. Allein das war
in der That nur noch ein sehr schlechter Anfang dazu. Aeschy-
lus nehmlich, ein neuerer Poet, sahe wohl, daß auch die Er-
zehlungen einzelner Personen, die man zwischen die Lieder ein-
schaltete, noch nicht so angenehm wären, als wenn ein Paar
mit einander sprächen, darinnen sich mehr Mannigfaltigkeit
und Veränderung würde anbringen lassen. Und da ihm
solches nach Wunsche ausschlug; dachte er auch auf mehrere
Zierrathe seiner Tragödien. Er erfand die Larven, gab sei-
nen Leuten erbare Kleidungen, und bauete sich eine bessere
Schaubühne. Ja welches das merckwürdigste war, so
machte Aeschylus, daß die Gespräche seiner auftretenden
Personen miteinander zusammenhiengen, ja er erfand zuerst
die Jdee der Hauptperson in einem solchen Spiele, welches
vorher nur ein verwirrtes Wesen ohne Verknüpfung und
Ordnung gewesen war. Das bezeugt abermahl Aristoteles
in seinem IVten Capitel, und Horatz in folgenden Worten:

Ignotum Tragicae genus inuenisse Camoenae
Dicitur et plaustris vexisse Poemata Thespis:
Quae canerent agerentque peruncti faecibus ora.
Post hunc personae et pallae repertor honestae
Aeschylus, et modicis instrauit pulpita tignis,
Et docuit magnumque loqui, nitique cothurno.

Dieser letzte Vers zeigt noch an, daß man auch um diese
Zeit die hohe Schreibart in die Tragödie eingeführt habe.
Denn vorher war ihr Vortrag voller Zoten und gemeinen
Possen gewesen; so wie auch ihr Jnhalt gantz satirisch war.
Die Poeten hatten sich hierinn nach den Zuschauern gerichtet,
die in ihrer ersten Grobheit an etwas ernsthafftem noch keinen
Geschmack finden konnten: sondern nur allezeit lachen woll-
ten. Allmählich aber fanden sich auch verständigere Zu-
schauer, die an den gewöhnlichen Fratzen ein Mißfallen hat-
ten, und lieber was kluges sehen wollten. Jn dieser Ver-

fassung
N n 3

Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
ſie deſtobeſſer zu ſehen und zu hoͤren ſeyn moͤchten. Damit
man aber dieſelben nicht erkennen koͤnnte, ſalbte er ihnen die
Geſichter mit Hefen, welche ihnen anſtatt der Larven dienen
muſten. Um dieſer Veraͤnderung halber, wird Thespis
vor den Erfinder der Tragoͤdie gehalten. Allein das war
in der That nur noch ein ſehr ſchlechter Anfang dazu. Aeſchy-
lus nehmlich, ein neuerer Poet, ſahe wohl, daß auch die Er-
zehlungen einzelner Perſonen, die man zwiſchen die Lieder ein-
ſchaltete, noch nicht ſo angenehm waͤren, als wenn ein Paar
mit einander ſpraͤchen, darinnen ſich mehr Mannigfaltigkeit
und Veraͤnderung wuͤrde anbringen laſſen. Und da ihm
ſolches nach Wunſche ausſchlug; dachte er auch auf mehrere
Zierrathe ſeiner Tragoͤdien. Er erfand die Larven, gab ſei-
nen Leuten erbare Kleidungen, und bauete ſich eine beſſere
Schaubuͤhne. Ja welches das merckwuͤrdigſte war, ſo
machte Aeſchylus, daß die Geſpraͤche ſeiner auftretenden
Perſonen miteinander zuſammenhiengen, ja er erfand zuerſt
die Jdee der Hauptperſon in einem ſolchen Spiele, welches
vorher nur ein verwirrtes Weſen ohne Verknuͤpfung und
Ordnung geweſen war. Das bezeugt abermahl Ariſtoteles
in ſeinem IVten Capitel, und Horatz in folgenden Worten:

Ignotum Tragicae genus inueniſſe Camoenae
Dicitur et plauſtris vexiſſe Poemata Thespis:
Quae canerent agerentque peruncti faecibus ora.
Poſt hunc perſonae et pallae repertor honeſtae
Aeſchylus, et modicis inſtrauit pulpita tignis,
Et docuit magnumque loqui, nitique cothurno.

Dieſer letzte Vers zeigt noch an, daß man auch um dieſe
Zeit die hohe Schreibart in die Tragoͤdie eingefuͤhrt habe.
Denn vorher war ihr Vortrag voller Zoten und gemeinen
Poſſen geweſen; ſo wie auch ihr Jnhalt gantz ſatiriſch war.
Die Poeten hatten ſich hierinn nach den Zuſchauern gerichtet,
die in ihrer erſten Grobheit an etwas ernſthafftem noch keinen
Geſchmack finden konnten: ſondern nur allezeit lachen woll-
ten. Allmaͤhlich aber fanden ſich auch verſtaͤndigere Zu-
ſchauer, die an den gewoͤhnlichen Fratzen ein Mißfallen hat-
ten, und lieber was kluges ſehen wollten. Jn dieſer Ver-

faſſung
N n 3
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[565/0593] Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen. ſie deſtobeſſer zu ſehen und zu hoͤren ſeyn moͤchten. Damit man aber dieſelben nicht erkennen koͤnnte, ſalbte er ihnen die Geſichter mit Hefen, welche ihnen anſtatt der Larven dienen muſten. Um dieſer Veraͤnderung halber, wird Thespis vor den Erfinder der Tragoͤdie gehalten. Allein das war in der That nur noch ein ſehr ſchlechter Anfang dazu. Aeſchy- lus nehmlich, ein neuerer Poet, ſahe wohl, daß auch die Er- zehlungen einzelner Perſonen, die man zwiſchen die Lieder ein- ſchaltete, noch nicht ſo angenehm waͤren, als wenn ein Paar mit einander ſpraͤchen, darinnen ſich mehr Mannigfaltigkeit und Veraͤnderung wuͤrde anbringen laſſen. Und da ihm ſolches nach Wunſche ausſchlug; dachte er auch auf mehrere Zierrathe ſeiner Tragoͤdien. Er erfand die Larven, gab ſei- nen Leuten erbare Kleidungen, und bauete ſich eine beſſere Schaubuͤhne. Ja welches das merckwuͤrdigſte war, ſo machte Aeſchylus, daß die Geſpraͤche ſeiner auftretenden Perſonen miteinander zuſammenhiengen, ja er erfand zuerſt die Jdee der Hauptperſon in einem ſolchen Spiele, welches vorher nur ein verwirrtes Weſen ohne Verknuͤpfung und Ordnung geweſen war. Das bezeugt abermahl Ariſtoteles in ſeinem IVten Capitel, und Horatz in folgenden Worten: Ignotum Tragicae genus inueniſſe Camoenae Dicitur et plauſtris vexiſſe Poemata Thespis: Quae canerent agerentque peruncti faecibus ora. Poſt hunc perſonae et pallae repertor honeſtae Aeſchylus, et modicis inſtrauit pulpita tignis, Et docuit magnumque loqui, nitique cothurno. Dieſer letzte Vers zeigt noch an, daß man auch um dieſe Zeit die hohe Schreibart in die Tragoͤdie eingefuͤhrt habe. Denn vorher war ihr Vortrag voller Zoten und gemeinen Poſſen geweſen; ſo wie auch ihr Jnhalt gantz ſatiriſch war. Die Poeten hatten ſich hierinn nach den Zuſchauern gerichtet, die in ihrer erſten Grobheit an etwas ernſthafftem noch keinen Geſchmack finden konnten: ſondern nur allezeit lachen woll- ten. Allmaͤhlich aber fanden ſich auch verſtaͤndigere Zu- ſchauer, die an den gewoͤhnlichen Fratzen ein Mißfallen hat- ten, und lieber was kluges ſehen wollten. Jn dieſer Ver- faſſung N n 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 565. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/593>, abgerufen am 28.03.2024.