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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Da ist nehmlich in dem vielzackigen Bau unserer Gerichtsord¬
nung mit ihrem dunkeln corridorartigen Schweif von nachträglichen
Verordnungen, von unsichtbaren kleinen Ein- und Ausgangsthüren,
auch ein Winkel in welchem sich die höchst wichtigen und entsetz¬
lich nothwendigen Vorschriften finden: welchen Classen von
Bürgern -- wenn sie vor Gericht zu Zeugen berufen werden --
ein Stuhl zum Sitzen angeboten werden muß und welchen
keiner zu bieten ist. Dieser kleine Stuhl ist gewissermaßen der
Grenzpfahl zwischen dem untern und dem höhern Bürgerstand, der
Kreisstuhl auf welchem der Mittelstand, der einflußreiche, machtö-
schwanger seine Geburt feiert. Unsere Leser sind vielleicht neugierig
zu erfahren, wer Meister vom Stuhle ist, und wer nicht? Aber
die genauere Angabe würde Nachgrabungen in etwa sechs bis
acht Schachten und Bänden unserer zickzackigen, nichts weniger
als lichten legislatorischen Sammlungen verlangen. Nicht einmal
das verdienstvolle Werk des Grafen Bartheim, das für die vielen
Grotten, Schluchten und Labyrinthe unserer Gesetze und Verord¬
nungen den Führer und Compaß abgiebt, reicht hier aus. Da
steht z. B. ein Zeuge vor Gericht, ein Mann mit grauen Haaren,
mit jenen Furchen im Gesicht die ein ernstes und thätiges Leben
andeuten, sein Rock ist nicht nach der Mode aber von gutem Mit-
teltuchc, blank gebürstet, seine Wäsche ist nicht fein, aber reinlich,
seine Haltung ist nicht elegant und vornehm, aber ehrbar und be¬
scheiden, es ist ein würdiger Werkmeister, auf dessen Wort zwanzig
Gesellen und Lehrlinge daheim ihre rüstigen Hände bewegen, einer
jener tüchtigen und gewiegten Soldaten der Industrie, die im Ein¬
zelnen unscheinbar sind, aber in Masse dem Staate seinen Wohl¬
stand erbauen. Bereits zwei Stunden nimmt ihn das Gericht in
Anspruch, aber Niemand heißt ihn niedersitzen. Jetzt wird ein an¬
derer Zeuge herbeigerufen, ein junger Mann, wohlfrisirt und ge¬
putzt, die kleinen der Arbeit wenig gewohnten Hände in hellen
Handschuhen, er reicht dem Andern kaum an die Brust, er könnte
sein Sohn sein -- aber der Gerichtsdiener beeilt sich sogleich, ihm
einen Stuhl zu offeriren -- denn er ist Beamte, d. h. er wird
vom Staate aus der Casse besoldet, zu der der Andere seine Steu¬
ern von dem Ertrage seines Schweißes zahlt. Dem Ernährten
werden die Ehren der Gesellschaft erwiesen, der Ernährer wird vor-


Da ist nehmlich in dem vielzackigen Bau unserer Gerichtsord¬
nung mit ihrem dunkeln corridorartigen Schweif von nachträglichen
Verordnungen, von unsichtbaren kleinen Ein- und Ausgangsthüren,
auch ein Winkel in welchem sich die höchst wichtigen und entsetz¬
lich nothwendigen Vorschriften finden: welchen Classen von
Bürgern — wenn sie vor Gericht zu Zeugen berufen werden —
ein Stuhl zum Sitzen angeboten werden muß und welchen
keiner zu bieten ist. Dieser kleine Stuhl ist gewissermaßen der
Grenzpfahl zwischen dem untern und dem höhern Bürgerstand, der
Kreisstuhl auf welchem der Mittelstand, der einflußreiche, machtö-
schwanger seine Geburt feiert. Unsere Leser sind vielleicht neugierig
zu erfahren, wer Meister vom Stuhle ist, und wer nicht? Aber
die genauere Angabe würde Nachgrabungen in etwa sechs bis
acht Schachten und Bänden unserer zickzackigen, nichts weniger
als lichten legislatorischen Sammlungen verlangen. Nicht einmal
das verdienstvolle Werk des Grafen Bartheim, das für die vielen
Grotten, Schluchten und Labyrinthe unserer Gesetze und Verord¬
nungen den Führer und Compaß abgiebt, reicht hier aus. Da
steht z. B. ein Zeuge vor Gericht, ein Mann mit grauen Haaren,
mit jenen Furchen im Gesicht die ein ernstes und thätiges Leben
andeuten, sein Rock ist nicht nach der Mode aber von gutem Mit-
teltuchc, blank gebürstet, seine Wäsche ist nicht fein, aber reinlich,
seine Haltung ist nicht elegant und vornehm, aber ehrbar und be¬
scheiden, es ist ein würdiger Werkmeister, auf dessen Wort zwanzig
Gesellen und Lehrlinge daheim ihre rüstigen Hände bewegen, einer
jener tüchtigen und gewiegten Soldaten der Industrie, die im Ein¬
zelnen unscheinbar sind, aber in Masse dem Staate seinen Wohl¬
stand erbauen. Bereits zwei Stunden nimmt ihn das Gericht in
Anspruch, aber Niemand heißt ihn niedersitzen. Jetzt wird ein an¬
derer Zeuge herbeigerufen, ein junger Mann, wohlfrisirt und ge¬
putzt, die kleinen der Arbeit wenig gewohnten Hände in hellen
Handschuhen, er reicht dem Andern kaum an die Brust, er könnte
sein Sohn sein — aber der Gerichtsdiener beeilt sich sogleich, ihm
einen Stuhl zu offeriren — denn er ist Beamte, d. h. er wird
vom Staate aus der Casse besoldet, zu der der Andere seine Steu¬
ern von dem Ertrage seines Schweißes zahlt. Dem Ernährten
werden die Ehren der Gesellschaft erwiesen, der Ernährer wird vor-


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[0490] Da ist nehmlich in dem vielzackigen Bau unserer Gerichtsord¬ nung mit ihrem dunkeln corridorartigen Schweif von nachträglichen Verordnungen, von unsichtbaren kleinen Ein- und Ausgangsthüren, auch ein Winkel in welchem sich die höchst wichtigen und entsetz¬ lich nothwendigen Vorschriften finden: welchen Classen von Bürgern — wenn sie vor Gericht zu Zeugen berufen werden — ein Stuhl zum Sitzen angeboten werden muß und welchen keiner zu bieten ist. Dieser kleine Stuhl ist gewissermaßen der Grenzpfahl zwischen dem untern und dem höhern Bürgerstand, der Kreisstuhl auf welchem der Mittelstand, der einflußreiche, machtö- schwanger seine Geburt feiert. Unsere Leser sind vielleicht neugierig zu erfahren, wer Meister vom Stuhle ist, und wer nicht? Aber die genauere Angabe würde Nachgrabungen in etwa sechs bis acht Schachten und Bänden unserer zickzackigen, nichts weniger als lichten legislatorischen Sammlungen verlangen. Nicht einmal das verdienstvolle Werk des Grafen Bartheim, das für die vielen Grotten, Schluchten und Labyrinthe unserer Gesetze und Verord¬ nungen den Führer und Compaß abgiebt, reicht hier aus. Da steht z. B. ein Zeuge vor Gericht, ein Mann mit grauen Haaren, mit jenen Furchen im Gesicht die ein ernstes und thätiges Leben andeuten, sein Rock ist nicht nach der Mode aber von gutem Mit- teltuchc, blank gebürstet, seine Wäsche ist nicht fein, aber reinlich, seine Haltung ist nicht elegant und vornehm, aber ehrbar und be¬ scheiden, es ist ein würdiger Werkmeister, auf dessen Wort zwanzig Gesellen und Lehrlinge daheim ihre rüstigen Hände bewegen, einer jener tüchtigen und gewiegten Soldaten der Industrie, die im Ein¬ zelnen unscheinbar sind, aber in Masse dem Staate seinen Wohl¬ stand erbauen. Bereits zwei Stunden nimmt ihn das Gericht in Anspruch, aber Niemand heißt ihn niedersitzen. Jetzt wird ein an¬ derer Zeuge herbeigerufen, ein junger Mann, wohlfrisirt und ge¬ putzt, die kleinen der Arbeit wenig gewohnten Hände in hellen Handschuhen, er reicht dem Andern kaum an die Brust, er könnte sein Sohn sein — aber der Gerichtsdiener beeilt sich sogleich, ihm einen Stuhl zu offeriren — denn er ist Beamte, d. h. er wird vom Staate aus der Casse besoldet, zu der der Andere seine Steu¬ ern von dem Ertrage seines Schweißes zahlt. Dem Ernährten werden die Ehren der Gesellschaft erwiesen, der Ernährer wird vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/490>, abgerufen am 29.03.2024.