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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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lauf in der Entwicklung joder dieser einzelnen grüßen! Kunstperioden zu
skizziren.

Haben nämlich die Schöpfer einer solchen, dein Drange ihres Gemüths fol¬
gend, nachdem sie die vorgefundenen Ueberlieferungen beseitigt, ihre Anschauungen
oder vielmehr die ihrer Zeit dargestellt, so wie die künstlerischen Formen da¬
für gefunden, so erlangen dieselben bald allgemeine Geltung, werden zum
Gesetz erhoben und in Regeln gebracht, und die Schule sucht sich dieselben
durchaus anzueignen, ohne den Prozeß durchzumachen, auf dem der Meister
sie gewann. Das ist die akademische Periode. Mittlerweile haben aber
die Ideen, die den Reformator trugen, im Bewußtsein des Volks gewöhnlich
andern Platz gemacht, und es ist somit der Schule nur die leere ererbte aka¬
demische Form geblieben, also der Zopf, der einer jeden Kunstperiode anklebt
und den man bei den Griechen, bei den Römern, bei den Giottistcn, bei den
Schulen Raphaels und Michel Angelos wie Dürers ganz gleichmäßig findet,
den der griechische Stil wie der gothische aufweist.

Um diese Zeit substituirt man dem Streben nach Wahrheit regelmäßig
das nach Schönheit. Das heißt mit andern Worten, man läßt sich nicht mehr
von der Natur, sondern von Kunstwerken inspiriren. Diese angebliche
Schönheit soll nicht innerhalb der Natur, sondern außerhalb derselben gefun¬
den werden, sie soll nur in dieser oder jener Kunstperiode gekannt, an diesen
oder jenen Kunstwerken zu finden gewesen se>n. Man studirt nicht mehr die
Natur und das Leben, um an der unerschöpflichen Fülle ihrer Erscheinungen
und Bildungen Theil zu nehmen, sondern man kümmert sich höchstens noch
um ihre organischen Gesetze, man individualisirt nicht mehr, sondern man
idealisut, d. h. man begnügt sich mit einer größern oder kleinern Anzahl
dem Meister abgelernter Formen, man setzt die Subjecttvität auf den Thron.

Es muß leider zugestanden werden, daß Michel Angelo in dieses Reich der
subjectiven Willkür unter den Neuern Hauptsächlich den Weg gezeigt hat, da
dieser ruhige Geist von dem Streben erfüllt war, die Ideen, die ihn trugen,
und die also auch der Zeit gehörte", in Formen zu kleiden, die außer und über aller
Tradition nicht nur, sondern auch anßer dem Kreise individueller Wahrneh¬
mung überhaupt standen. Das schlimmste aber ist, daß dieser idealisirende
Stil der Epigonen, wie wir gezeigt, durchaus keinen eignen Inhalt mehr hat,
da er sich vom gesunden Boden des Bolksthuns losgesagt, sondern nur "och
den der vorhergegangenen Eulturperiode nachäfft. Diese Künstler können also
"icht mehr naiv und frisch, empfinden, sonder" nur reflectirt denken, die Ge¬
danke" ^ durchgängig geziert, übertriebe" dar, um die innere
Kälte und Gleichgiltigkeit, den Mangel aller Unmittelbarkeit zu verbergen, in
der sie sich ^ Stoffe verhalten. Sie gleichen alten Eoquetten, die


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lauf in der Entwicklung joder dieser einzelnen grüßen! Kunstperioden zu
skizziren.

Haben nämlich die Schöpfer einer solchen, dein Drange ihres Gemüths fol¬
gend, nachdem sie die vorgefundenen Ueberlieferungen beseitigt, ihre Anschauungen
oder vielmehr die ihrer Zeit dargestellt, so wie die künstlerischen Formen da¬
für gefunden, so erlangen dieselben bald allgemeine Geltung, werden zum
Gesetz erhoben und in Regeln gebracht, und die Schule sucht sich dieselben
durchaus anzueignen, ohne den Prozeß durchzumachen, auf dem der Meister
sie gewann. Das ist die akademische Periode. Mittlerweile haben aber
die Ideen, die den Reformator trugen, im Bewußtsein des Volks gewöhnlich
andern Platz gemacht, und es ist somit der Schule nur die leere ererbte aka¬
demische Form geblieben, also der Zopf, der einer jeden Kunstperiode anklebt
und den man bei den Griechen, bei den Römern, bei den Giottistcn, bei den
Schulen Raphaels und Michel Angelos wie Dürers ganz gleichmäßig findet,
den der griechische Stil wie der gothische aufweist.

Um diese Zeit substituirt man dem Streben nach Wahrheit regelmäßig
das nach Schönheit. Das heißt mit andern Worten, man läßt sich nicht mehr
von der Natur, sondern von Kunstwerken inspiriren. Diese angebliche
Schönheit soll nicht innerhalb der Natur, sondern außerhalb derselben gefun¬
den werden, sie soll nur in dieser oder jener Kunstperiode gekannt, an diesen
oder jenen Kunstwerken zu finden gewesen se>n. Man studirt nicht mehr die
Natur und das Leben, um an der unerschöpflichen Fülle ihrer Erscheinungen
und Bildungen Theil zu nehmen, sondern man kümmert sich höchstens noch
um ihre organischen Gesetze, man individualisirt nicht mehr, sondern man
idealisut, d. h. man begnügt sich mit einer größern oder kleinern Anzahl
dem Meister abgelernter Formen, man setzt die Subjecttvität auf den Thron.

Es muß leider zugestanden werden, daß Michel Angelo in dieses Reich der
subjectiven Willkür unter den Neuern Hauptsächlich den Weg gezeigt hat, da
dieser ruhige Geist von dem Streben erfüllt war, die Ideen, die ihn trugen,
und die also auch der Zeit gehörte», in Formen zu kleiden, die außer und über aller
Tradition nicht nur, sondern auch anßer dem Kreise individueller Wahrneh¬
mung überhaupt standen. Das schlimmste aber ist, daß dieser idealisirende
Stil der Epigonen, wie wir gezeigt, durchaus keinen eignen Inhalt mehr hat,
da er sich vom gesunden Boden des Bolksthuns losgesagt, sondern nur »och
den der vorhergegangenen Eulturperiode nachäfft. Diese Künstler können also
"icht mehr naiv und frisch, empfinden, sonder» nur reflectirt denken, die Ge¬
danke» ^ durchgängig geziert, übertriebe« dar, um die innere
Kälte und Gleichgiltigkeit, den Mangel aller Unmittelbarkeit zu verbergen, in
der sie sich ^ Stoffe verhalten. Sie gleichen alten Eoquetten, die


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[0025] lauf in der Entwicklung joder dieser einzelnen grüßen! Kunstperioden zu skizziren. Haben nämlich die Schöpfer einer solchen, dein Drange ihres Gemüths fol¬ gend, nachdem sie die vorgefundenen Ueberlieferungen beseitigt, ihre Anschauungen oder vielmehr die ihrer Zeit dargestellt, so wie die künstlerischen Formen da¬ für gefunden, so erlangen dieselben bald allgemeine Geltung, werden zum Gesetz erhoben und in Regeln gebracht, und die Schule sucht sich dieselben durchaus anzueignen, ohne den Prozeß durchzumachen, auf dem der Meister sie gewann. Das ist die akademische Periode. Mittlerweile haben aber die Ideen, die den Reformator trugen, im Bewußtsein des Volks gewöhnlich andern Platz gemacht, und es ist somit der Schule nur die leere ererbte aka¬ demische Form geblieben, also der Zopf, der einer jeden Kunstperiode anklebt und den man bei den Griechen, bei den Römern, bei den Giottistcn, bei den Schulen Raphaels und Michel Angelos wie Dürers ganz gleichmäßig findet, den der griechische Stil wie der gothische aufweist. Um diese Zeit substituirt man dem Streben nach Wahrheit regelmäßig das nach Schönheit. Das heißt mit andern Worten, man läßt sich nicht mehr von der Natur, sondern von Kunstwerken inspiriren. Diese angebliche Schönheit soll nicht innerhalb der Natur, sondern außerhalb derselben gefun¬ den werden, sie soll nur in dieser oder jener Kunstperiode gekannt, an diesen oder jenen Kunstwerken zu finden gewesen se>n. Man studirt nicht mehr die Natur und das Leben, um an der unerschöpflichen Fülle ihrer Erscheinungen und Bildungen Theil zu nehmen, sondern man kümmert sich höchstens noch um ihre organischen Gesetze, man individualisirt nicht mehr, sondern man idealisut, d. h. man begnügt sich mit einer größern oder kleinern Anzahl dem Meister abgelernter Formen, man setzt die Subjecttvität auf den Thron. Es muß leider zugestanden werden, daß Michel Angelo in dieses Reich der subjectiven Willkür unter den Neuern Hauptsächlich den Weg gezeigt hat, da dieser ruhige Geist von dem Streben erfüllt war, die Ideen, die ihn trugen, und die also auch der Zeit gehörte», in Formen zu kleiden, die außer und über aller Tradition nicht nur, sondern auch anßer dem Kreise individueller Wahrneh¬ mung überhaupt standen. Das schlimmste aber ist, daß dieser idealisirende Stil der Epigonen, wie wir gezeigt, durchaus keinen eignen Inhalt mehr hat, da er sich vom gesunden Boden des Bolksthuns losgesagt, sondern nur »och den der vorhergegangenen Eulturperiode nachäfft. Diese Künstler können also "icht mehr naiv und frisch, empfinden, sonder» nur reflectirt denken, die Ge¬ danke» ^ durchgängig geziert, übertriebe« dar, um die innere Kälte und Gleichgiltigkeit, den Mangel aller Unmittelbarkeit zu verbergen, in der sie sich ^ Stoffe verhalten. Sie gleichen alten Eoquetten, die «-wuzlwten II, 1558 !i

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/25>, abgerufen am 12.10.2024.