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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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glaube der Kinderstuben im Alterthum hat mit dem heutigen viel gemein.
Gcdieb das Kind und vergaß sich jemand soweit, es unumwunden zu loben,
so ermangelte die besorgte Wärterin nicht, ein "Unberufen" hinzuzusetzen oder
den Mittelfinger mit Speichel zu benetzen und damit die Stirn des Kindes
zu berühren, oder es gradezu dreimal anzuspucken. Ueberdies wurden den
Kindern als Schutzmittel gegen Beschreieu oder den Zauber des bösen Blickes
allerlei Amulete angehängt, besonders aus Bernstein und Korallen; als Mittel
leichten Zahnens band man ihnen Zähne von Pferden oder Wölfen um. Hatte
die Kleine sich mit Ball oder Puppe müde gespielt, dann saß sie erwartungs¬
voll zu den Füßen der Wärterin, von deren Lippen das wohlbekannte: "In
einem Lande waren einmal ein König und eine Königin" ertönte. Nicht blos
diesen Anfang hatte das römische Märchen mit dem unsern gemein, es führte
überhaupt die kindische Phantasie in dasselbe bunte, glänzende Reich der Wunder.
Auch uuter seinen Heldinnen war die wunderschöne Königstochter, so schön,
daß es mit Worten gar nicht zu sagen war. Sie war die jüngste von dreien
und wurde von ihren minder schönen Schwestern beneidet, und mit bösen
Ränken verfolgt, heirathete aber endlich doch den schönsten Bräutigam, wäh¬
rend die beiden andern zur Strafe ihrer Mißgunst einen schrecklichen Tod
fanden. Wir kennen alle das entzückte Staunen, das die jungen Herzen er¬
füllt, wenn die schöne Prinzessin in den Wunderpalast kam, der in tiefer Ein¬
samkeit in einem dunkeln Hain! an einem klaren Bache stand, mit goldenen
Säulen, silbernen Wänden und Fußböden aus edlen Steinen, wo es von all
dem funkelnden Glanz auch in der Nacht hell war. Geisterhafte Diener-
schaften waren jedes Winkes der Herrin gewärtig, die aber nur ihre Stimme
vernahm. Wir kennen die angstvolle Spannung, die die kleinen Zuhörerinnen
ergriff, wenn die Prinzessin die drei schweren Arbeiten verrichten sollte, und
das frohe Aufathmen, wenn ihr jede unter dem freundlichen Beistande wun¬
derbarer Wesen gelang. Wenn sie ans Befehl der bösen Herrin einen großen
Haufen Weizen. Gerste. Hirse und Mohn bis zum Abend auseinanderlesen
sollte, kamen Ameisen und verrichteten für sie das Geschäft. Das Schilf¬
rohr am Flusse flüsterte ihr zu. wie sie Flocken-von den Vließen der wilden
goldwolligen Schafe erhalten könnte, und der Adler holte für sie das Wasser
aus der von Drachen bewachten Quelle.

Dann kamen die Jahre des Lernens. Die Mädchen lernten spinnen und
weben; denn auch in der spätern Zeit wurden die Kleider für die Familie
in Häusern, wo man auf gute alte Sitte hielt, uuter Mitwirkung oder doch
Leitung der Hausfrau verfertigt. Den wissenschaftlichen Unterricht erhielten
die Töchter der höhern Stände ebenfalls zu Hause, und nur die weniger Be¬
mittelten sandten die ihrigen in jeder Frühe in die Schule. wo der Schul¬
meister, "dieses den Knaben und Mädchen verhaßte Haupt", wie ihn Martial


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glaube der Kinderstuben im Alterthum hat mit dem heutigen viel gemein.
Gcdieb das Kind und vergaß sich jemand soweit, es unumwunden zu loben,
so ermangelte die besorgte Wärterin nicht, ein „Unberufen" hinzuzusetzen oder
den Mittelfinger mit Speichel zu benetzen und damit die Stirn des Kindes
zu berühren, oder es gradezu dreimal anzuspucken. Ueberdies wurden den
Kindern als Schutzmittel gegen Beschreieu oder den Zauber des bösen Blickes
allerlei Amulete angehängt, besonders aus Bernstein und Korallen; als Mittel
leichten Zahnens band man ihnen Zähne von Pferden oder Wölfen um. Hatte
die Kleine sich mit Ball oder Puppe müde gespielt, dann saß sie erwartungs¬
voll zu den Füßen der Wärterin, von deren Lippen das wohlbekannte: „In
einem Lande waren einmal ein König und eine Königin" ertönte. Nicht blos
diesen Anfang hatte das römische Märchen mit dem unsern gemein, es führte
überhaupt die kindische Phantasie in dasselbe bunte, glänzende Reich der Wunder.
Auch uuter seinen Heldinnen war die wunderschöne Königstochter, so schön,
daß es mit Worten gar nicht zu sagen war. Sie war die jüngste von dreien
und wurde von ihren minder schönen Schwestern beneidet, und mit bösen
Ränken verfolgt, heirathete aber endlich doch den schönsten Bräutigam, wäh¬
rend die beiden andern zur Strafe ihrer Mißgunst einen schrecklichen Tod
fanden. Wir kennen alle das entzückte Staunen, das die jungen Herzen er¬
füllt, wenn die schöne Prinzessin in den Wunderpalast kam, der in tiefer Ein¬
samkeit in einem dunkeln Hain! an einem klaren Bache stand, mit goldenen
Säulen, silbernen Wänden und Fußböden aus edlen Steinen, wo es von all
dem funkelnden Glanz auch in der Nacht hell war. Geisterhafte Diener-
schaften waren jedes Winkes der Herrin gewärtig, die aber nur ihre Stimme
vernahm. Wir kennen die angstvolle Spannung, die die kleinen Zuhörerinnen
ergriff, wenn die Prinzessin die drei schweren Arbeiten verrichten sollte, und
das frohe Aufathmen, wenn ihr jede unter dem freundlichen Beistande wun¬
derbarer Wesen gelang. Wenn sie ans Befehl der bösen Herrin einen großen
Haufen Weizen. Gerste. Hirse und Mohn bis zum Abend auseinanderlesen
sollte, kamen Ameisen und verrichteten für sie das Geschäft. Das Schilf¬
rohr am Flusse flüsterte ihr zu. wie sie Flocken-von den Vließen der wilden
goldwolligen Schafe erhalten könnte, und der Adler holte für sie das Wasser
aus der von Drachen bewachten Quelle.

Dann kamen die Jahre des Lernens. Die Mädchen lernten spinnen und
weben; denn auch in der spätern Zeit wurden die Kleider für die Familie
in Häusern, wo man auf gute alte Sitte hielt, uuter Mitwirkung oder doch
Leitung der Hausfrau verfertigt. Den wissenschaftlichen Unterricht erhielten
die Töchter der höhern Stände ebenfalls zu Hause, und nur die weniger Be¬
mittelten sandten die ihrigen in jeder Frühe in die Schule. wo der Schul¬
meister, „dieses den Knaben und Mädchen verhaßte Haupt", wie ihn Martial


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[0035] glaube der Kinderstuben im Alterthum hat mit dem heutigen viel gemein. Gcdieb das Kind und vergaß sich jemand soweit, es unumwunden zu loben, so ermangelte die besorgte Wärterin nicht, ein „Unberufen" hinzuzusetzen oder den Mittelfinger mit Speichel zu benetzen und damit die Stirn des Kindes zu berühren, oder es gradezu dreimal anzuspucken. Ueberdies wurden den Kindern als Schutzmittel gegen Beschreieu oder den Zauber des bösen Blickes allerlei Amulete angehängt, besonders aus Bernstein und Korallen; als Mittel leichten Zahnens band man ihnen Zähne von Pferden oder Wölfen um. Hatte die Kleine sich mit Ball oder Puppe müde gespielt, dann saß sie erwartungs¬ voll zu den Füßen der Wärterin, von deren Lippen das wohlbekannte: „In einem Lande waren einmal ein König und eine Königin" ertönte. Nicht blos diesen Anfang hatte das römische Märchen mit dem unsern gemein, es führte überhaupt die kindische Phantasie in dasselbe bunte, glänzende Reich der Wunder. Auch uuter seinen Heldinnen war die wunderschöne Königstochter, so schön, daß es mit Worten gar nicht zu sagen war. Sie war die jüngste von dreien und wurde von ihren minder schönen Schwestern beneidet, und mit bösen Ränken verfolgt, heirathete aber endlich doch den schönsten Bräutigam, wäh¬ rend die beiden andern zur Strafe ihrer Mißgunst einen schrecklichen Tod fanden. Wir kennen alle das entzückte Staunen, das die jungen Herzen er¬ füllt, wenn die schöne Prinzessin in den Wunderpalast kam, der in tiefer Ein¬ samkeit in einem dunkeln Hain! an einem klaren Bache stand, mit goldenen Säulen, silbernen Wänden und Fußböden aus edlen Steinen, wo es von all dem funkelnden Glanz auch in der Nacht hell war. Geisterhafte Diener- schaften waren jedes Winkes der Herrin gewärtig, die aber nur ihre Stimme vernahm. Wir kennen die angstvolle Spannung, die die kleinen Zuhörerinnen ergriff, wenn die Prinzessin die drei schweren Arbeiten verrichten sollte, und das frohe Aufathmen, wenn ihr jede unter dem freundlichen Beistande wun¬ derbarer Wesen gelang. Wenn sie ans Befehl der bösen Herrin einen großen Haufen Weizen. Gerste. Hirse und Mohn bis zum Abend auseinanderlesen sollte, kamen Ameisen und verrichteten für sie das Geschäft. Das Schilf¬ rohr am Flusse flüsterte ihr zu. wie sie Flocken-von den Vließen der wilden goldwolligen Schafe erhalten könnte, und der Adler holte für sie das Wasser aus der von Drachen bewachten Quelle. Dann kamen die Jahre des Lernens. Die Mädchen lernten spinnen und weben; denn auch in der spätern Zeit wurden die Kleider für die Familie in Häusern, wo man auf gute alte Sitte hielt, uuter Mitwirkung oder doch Leitung der Hausfrau verfertigt. Den wissenschaftlichen Unterricht erhielten die Töchter der höhern Stände ebenfalls zu Hause, und nur die weniger Be¬ mittelten sandten die ihrigen in jeder Frühe in die Schule. wo der Schul¬ meister, „dieses den Knaben und Mädchen verhaßte Haupt", wie ihn Martial - 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/35>, abgerufen am 12.10.2024.