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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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die alte Autorität war nothwendig. Es ist nicht blos der zufällige Wechsel der
öffentlichen Stimmung, der uns anders empfinden läßt, nicht blos die
größere Breite und Höhe unsrer Bildung, die unser Urtheil verändert: wir
stehn mit einem ganz neuen, sittlichen Princip jenem Jahrhundert gegenüber.
Die Sache gilt uns mehr als die Person, die sittliche Kraft mehr als die
schöne Erscheinung, das bestimmte Vaterland hat das zerflossene Bild der
allgemeinen Humanität verdrängt. Schlimm genug, wenn das neue Princip
zuerst zersetzend, unschön, inhuman sich äußerte: Uebertreibungen sind bei
keinem Uebergang zu vermeiden. Jetzt stehn wir fest in der Ueberzeugung,
daß nur ein großer Wille groß empfindet und Großes schafft, daß nur in
der Wirkung fürs Ganze der einzelne sich wahrhaft befriedigt, und in dem
Bewußtsein dieser Sicherheit können wir einseitige Urtheile bedingen, in dem
unreifen Ganzen das bedeutende Einzelne mit Freuden nncikenncn.

Vielleicht niemand hat unter diesem Umschlag der Meinung so gelitten,
als Johannes Müller. In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts stand er
auf einer Höhe des Ruhms, an die wenig andere Namen hinanrcichten.
Die andern gefeierten Schriftsteller, selbst die ersten, wurden meistens von
einer Partei getragen; über Müller war alles einig, die Fürsten und Staats¬
männer wie die gewöhnlichen Leser; die Verfechter des Alten wie die Demo>
traten; selbst die Philosophen, deren Grundsähe er zuweilen sehr hart anfocht,
kamen ihm mit Achtung entgegen, und die ersten Männer der Wissenschaft
und Kunst nahmen keinen Anstand, ihm ihre Huldigungen darzubringen.
Freilich nur diese scheinbare Stärke seine Schwäche, denn wer von allen
gefeiert wird, pflegt es auch mit allen zu halten. Als nun der Augenblick
der That kam, wo die Meinungen sich scheiden mußten, ward er zu leicht
befunden. Aber an dem Verdammungsurtheil, welches seine Apostasie noch
heut hervorrufen muß, betheiligte sich damals doch nur die Partei der Patrio¬
ten. Es war noch keineswegs eine allgemein angenommene Voraussetzung, daß
zur Größe eines Schriftstellers seine sittliche Würde gehört. Erst jetzt, wo
man immer ernster darauf geführt wird, daß keine Vorzüge deu Mangel an
männlicher Haltung ersetzen, hat man mit gerechter, aber zuweilen unerfreu¬
licher Härte ein Stück seines Ruhms nach dem andern untersucht, man hat
nicht blos seine Schwächen als Mensch und als Bürger, sondern auch als
Forscher und Künstler ans Licht gezogen, so daß er als ein hohles Idol da¬
steht. Wir find in der unangenehmen Lage, jene Vorwürfe nicht blos zu
rechtfertigen, sondern nach vielen Seiten hin zu verschärfen; ja wir müssen
sagen, daß bei dem genauern Studium seines Lebens das Erstaunen zuweilen
so groß wurde, als wären wir im Reich der Fabel. Aber es wäre ganz
gegen unsern Zweck, wenn nicht bei unsrer Schilderung zugleich die vielen
liebenswürdigen, edlen, ja die großen Seiten des Mannes hervortraten. Zwar


die alte Autorität war nothwendig. Es ist nicht blos der zufällige Wechsel der
öffentlichen Stimmung, der uns anders empfinden läßt, nicht blos die
größere Breite und Höhe unsrer Bildung, die unser Urtheil verändert: wir
stehn mit einem ganz neuen, sittlichen Princip jenem Jahrhundert gegenüber.
Die Sache gilt uns mehr als die Person, die sittliche Kraft mehr als die
schöne Erscheinung, das bestimmte Vaterland hat das zerflossene Bild der
allgemeinen Humanität verdrängt. Schlimm genug, wenn das neue Princip
zuerst zersetzend, unschön, inhuman sich äußerte: Uebertreibungen sind bei
keinem Uebergang zu vermeiden. Jetzt stehn wir fest in der Ueberzeugung,
daß nur ein großer Wille groß empfindet und Großes schafft, daß nur in
der Wirkung fürs Ganze der einzelne sich wahrhaft befriedigt, und in dem
Bewußtsein dieser Sicherheit können wir einseitige Urtheile bedingen, in dem
unreifen Ganzen das bedeutende Einzelne mit Freuden nncikenncn.

Vielleicht niemand hat unter diesem Umschlag der Meinung so gelitten,
als Johannes Müller. In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts stand er
auf einer Höhe des Ruhms, an die wenig andere Namen hinanrcichten.
Die andern gefeierten Schriftsteller, selbst die ersten, wurden meistens von
einer Partei getragen; über Müller war alles einig, die Fürsten und Staats¬
männer wie die gewöhnlichen Leser; die Verfechter des Alten wie die Demo>
traten; selbst die Philosophen, deren Grundsähe er zuweilen sehr hart anfocht,
kamen ihm mit Achtung entgegen, und die ersten Männer der Wissenschaft
und Kunst nahmen keinen Anstand, ihm ihre Huldigungen darzubringen.
Freilich nur diese scheinbare Stärke seine Schwäche, denn wer von allen
gefeiert wird, pflegt es auch mit allen zu halten. Als nun der Augenblick
der That kam, wo die Meinungen sich scheiden mußten, ward er zu leicht
befunden. Aber an dem Verdammungsurtheil, welches seine Apostasie noch
heut hervorrufen muß, betheiligte sich damals doch nur die Partei der Patrio¬
ten. Es war noch keineswegs eine allgemein angenommene Voraussetzung, daß
zur Größe eines Schriftstellers seine sittliche Würde gehört. Erst jetzt, wo
man immer ernster darauf geführt wird, daß keine Vorzüge deu Mangel an
männlicher Haltung ersetzen, hat man mit gerechter, aber zuweilen unerfreu¬
licher Härte ein Stück seines Ruhms nach dem andern untersucht, man hat
nicht blos seine Schwächen als Mensch und als Bürger, sondern auch als
Forscher und Künstler ans Licht gezogen, so daß er als ein hohles Idol da¬
steht. Wir find in der unangenehmen Lage, jene Vorwürfe nicht blos zu
rechtfertigen, sondern nach vielen Seiten hin zu verschärfen; ja wir müssen
sagen, daß bei dem genauern Studium seines Lebens das Erstaunen zuweilen
so groß wurde, als wären wir im Reich der Fabel. Aber es wäre ganz
gegen unsern Zweck, wenn nicht bei unsrer Schilderung zugleich die vielen
liebenswürdigen, edlen, ja die großen Seiten des Mannes hervortraten. Zwar


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/50>, abgerufen am 12.10.2024.