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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Das Reich und das Reichsland

Unterelsaß anders als im Oberelsaß, im französischen Sprachgebiet von
Lothringen anders als im deutschredendcn Teile dieser Provinz, Städte und
Dörfer, Jndnstriegebiete und ländliche Bezirke, protestantische und katholische
Gegenden weisen in politischer Beziehung große Unterschiede ans. Jede all¬
gemeine Behauptung über die politischen Verhältnisse in Elsaß-Lothringen kann
also immer nur ans eine beschränkte Richtigkeit Anspruch machen. Will man
trotzdem den gewagten Versuch unternehmen, einige allgemeine Grundzüge zu
skizzieren, so wird Wohl der Satz unbestritten bleiben, daß bei den untern
Volksklassen im Reichsland keine ansgesprvchne Abneigung gegen das Deutschtum
besteht. Einen Beweis hierfür bietet die große Zahl der eingebornen Unter¬
beamten im Dienst der Lnndcsoerwnltnng, der Post und der Eisenbahn, serner
die starke Beteiligung des einheimischen Elements an den deutscheu Krieger¬
vereinen und die Häufigkeit der Mischehen zwischen Cingebornen und Ein¬
gewanderten. Das politische Interesse dieser Klassen ist bis jetzt gering, da
die Sozialdemokratie in den Kreisen der Einheimischen verhältnismäßig wenig
Anhänger gefunden hat. Die Führer der sozialdemokratischen Bewegung im
Neichslnnd sind fast sämtlich eingewanderte Altdeutsche. Die Haltung der
untern Klassen bei den Wahlen wird in der Regel durch die höhern und die
mittlern Stunde, in katholischen Gegenden besonders durch die Geistlichkeit
bestimmt.

Anders liegt die Sache bei den Angehörigen der gebildeten und halb¬
gebildeter .Klassen. Hier lassen sich im großen und ganzen drei verschiedne
Gruppen unterscheiden: 1. die Gruppe der deutschen Elsaß-Lothringer, 2. die
Gruppe der französischen Elsaß-Lothringer, 3. die Gruppe der Partikularistischen
Elsaß-Lothringer. Bei der Trennung des Landes von Frankreich im Jahre
1871 war überhaupt keine teutschgesinnte politische Partei in Elsaß-Lothringen
vorhanden. Nur ein kleines Häuflein protestantischer Straßburger hat damals
die Rückkehr ihrer elsässischen Heimat zum alten Mutterlande freudig begrüßt
und in Liedern öffentlich gefeiert. Im Lnnf von dreißig Jahren ist ans diesem
kleinen Häuflein deutschgesiunter Männer ein stattliches Bataillon geworden.
Heute wird man die größere Hälfte der eingebornen Beamten sowie eine An¬
zahl Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Geistliche, Bürgermeister usw. zu dieser
Gruppe zählen können. Die Zahl der deulschgesinuteu Elsaß-Lothringer würde
zweifellos noch viel größer sein, wenn die Landesregierung konsequent den
deutschen Standpunkt festgehalten hätte. Bekanntlich ist dies uicht geschehn;
das unheilvolle Regiment des Feldmarschalls von Manteuffel hat die Germa¬
nisierung des Neichslauds um Jahrzehnte gehemmt und verzögert.

Die Partei der französischen Elsaß-Lothringer, die im Jahre 1871 fast
die ganze Bevölkerung umfaßte, hat im Lauf eines Menschenalters sehr viel
Anhänger verloren und ist genötigt gewesen, ihre Taktik vollständig zu ändern.
Erklärungen, wie sie der Abgeordnete Teutsch am 18. Februar 1874 im
Deutschen Reichstage abgegeben hat, kommen heute nicht mehr vor; Wahl¬
manifeste, wie sie Antoine 1882 in Metz und Lalance 1887 in Misthaufen


Grenzboten I V 1901 41
Das Reich und das Reichsland

Unterelsaß anders als im Oberelsaß, im französischen Sprachgebiet von
Lothringen anders als im deutschredendcn Teile dieser Provinz, Städte und
Dörfer, Jndnstriegebiete und ländliche Bezirke, protestantische und katholische
Gegenden weisen in politischer Beziehung große Unterschiede ans. Jede all¬
gemeine Behauptung über die politischen Verhältnisse in Elsaß-Lothringen kann
also immer nur ans eine beschränkte Richtigkeit Anspruch machen. Will man
trotzdem den gewagten Versuch unternehmen, einige allgemeine Grundzüge zu
skizzieren, so wird Wohl der Satz unbestritten bleiben, daß bei den untern
Volksklassen im Reichsland keine ansgesprvchne Abneigung gegen das Deutschtum
besteht. Einen Beweis hierfür bietet die große Zahl der eingebornen Unter¬
beamten im Dienst der Lnndcsoerwnltnng, der Post und der Eisenbahn, serner
die starke Beteiligung des einheimischen Elements an den deutscheu Krieger¬
vereinen und die Häufigkeit der Mischehen zwischen Cingebornen und Ein¬
gewanderten. Das politische Interesse dieser Klassen ist bis jetzt gering, da
die Sozialdemokratie in den Kreisen der Einheimischen verhältnismäßig wenig
Anhänger gefunden hat. Die Führer der sozialdemokratischen Bewegung im
Neichslnnd sind fast sämtlich eingewanderte Altdeutsche. Die Haltung der
untern Klassen bei den Wahlen wird in der Regel durch die höhern und die
mittlern Stunde, in katholischen Gegenden besonders durch die Geistlichkeit
bestimmt.

Anders liegt die Sache bei den Angehörigen der gebildeten und halb¬
gebildeter .Klassen. Hier lassen sich im großen und ganzen drei verschiedne
Gruppen unterscheiden: 1. die Gruppe der deutschen Elsaß-Lothringer, 2. die
Gruppe der französischen Elsaß-Lothringer, 3. die Gruppe der Partikularistischen
Elsaß-Lothringer. Bei der Trennung des Landes von Frankreich im Jahre
1871 war überhaupt keine teutschgesinnte politische Partei in Elsaß-Lothringen
vorhanden. Nur ein kleines Häuflein protestantischer Straßburger hat damals
die Rückkehr ihrer elsässischen Heimat zum alten Mutterlande freudig begrüßt
und in Liedern öffentlich gefeiert. Im Lnnf von dreißig Jahren ist ans diesem
kleinen Häuflein deutschgesiunter Männer ein stattliches Bataillon geworden.
Heute wird man die größere Hälfte der eingebornen Beamten sowie eine An¬
zahl Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Geistliche, Bürgermeister usw. zu dieser
Gruppe zählen können. Die Zahl der deulschgesinuteu Elsaß-Lothringer würde
zweifellos noch viel größer sein, wenn die Landesregierung konsequent den
deutschen Standpunkt festgehalten hätte. Bekanntlich ist dies uicht geschehn;
das unheilvolle Regiment des Feldmarschalls von Manteuffel hat die Germa¬
nisierung des Neichslauds um Jahrzehnte gehemmt und verzögert.

Die Partei der französischen Elsaß-Lothringer, die im Jahre 1871 fast
die ganze Bevölkerung umfaßte, hat im Lauf eines Menschenalters sehr viel
Anhänger verloren und ist genötigt gewesen, ihre Taktik vollständig zu ändern.
Erklärungen, wie sie der Abgeordnete Teutsch am 18. Februar 1874 im
Deutschen Reichstage abgegeben hat, kommen heute nicht mehr vor; Wahl¬
manifeste, wie sie Antoine 1882 in Metz und Lalance 1887 in Misthaufen


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[0329] Das Reich und das Reichsland Unterelsaß anders als im Oberelsaß, im französischen Sprachgebiet von Lothringen anders als im deutschredendcn Teile dieser Provinz, Städte und Dörfer, Jndnstriegebiete und ländliche Bezirke, protestantische und katholische Gegenden weisen in politischer Beziehung große Unterschiede ans. Jede all¬ gemeine Behauptung über die politischen Verhältnisse in Elsaß-Lothringen kann also immer nur ans eine beschränkte Richtigkeit Anspruch machen. Will man trotzdem den gewagten Versuch unternehmen, einige allgemeine Grundzüge zu skizzieren, so wird Wohl der Satz unbestritten bleiben, daß bei den untern Volksklassen im Reichsland keine ansgesprvchne Abneigung gegen das Deutschtum besteht. Einen Beweis hierfür bietet die große Zahl der eingebornen Unter¬ beamten im Dienst der Lnndcsoerwnltnng, der Post und der Eisenbahn, serner die starke Beteiligung des einheimischen Elements an den deutscheu Krieger¬ vereinen und die Häufigkeit der Mischehen zwischen Cingebornen und Ein¬ gewanderten. Das politische Interesse dieser Klassen ist bis jetzt gering, da die Sozialdemokratie in den Kreisen der Einheimischen verhältnismäßig wenig Anhänger gefunden hat. Die Führer der sozialdemokratischen Bewegung im Neichslnnd sind fast sämtlich eingewanderte Altdeutsche. Die Haltung der untern Klassen bei den Wahlen wird in der Regel durch die höhern und die mittlern Stunde, in katholischen Gegenden besonders durch die Geistlichkeit bestimmt. Anders liegt die Sache bei den Angehörigen der gebildeten und halb¬ gebildeter .Klassen. Hier lassen sich im großen und ganzen drei verschiedne Gruppen unterscheiden: 1. die Gruppe der deutschen Elsaß-Lothringer, 2. die Gruppe der französischen Elsaß-Lothringer, 3. die Gruppe der Partikularistischen Elsaß-Lothringer. Bei der Trennung des Landes von Frankreich im Jahre 1871 war überhaupt keine teutschgesinnte politische Partei in Elsaß-Lothringen vorhanden. Nur ein kleines Häuflein protestantischer Straßburger hat damals die Rückkehr ihrer elsässischen Heimat zum alten Mutterlande freudig begrüßt und in Liedern öffentlich gefeiert. Im Lnnf von dreißig Jahren ist ans diesem kleinen Häuflein deutschgesiunter Männer ein stattliches Bataillon geworden. Heute wird man die größere Hälfte der eingebornen Beamten sowie eine An¬ zahl Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Geistliche, Bürgermeister usw. zu dieser Gruppe zählen können. Die Zahl der deulschgesinuteu Elsaß-Lothringer würde zweifellos noch viel größer sein, wenn die Landesregierung konsequent den deutschen Standpunkt festgehalten hätte. Bekanntlich ist dies uicht geschehn; das unheilvolle Regiment des Feldmarschalls von Manteuffel hat die Germa¬ nisierung des Neichslauds um Jahrzehnte gehemmt und verzögert. Die Partei der französischen Elsaß-Lothringer, die im Jahre 1871 fast die ganze Bevölkerung umfaßte, hat im Lauf eines Menschenalters sehr viel Anhänger verloren und ist genötigt gewesen, ihre Taktik vollständig zu ändern. Erklärungen, wie sie der Abgeordnete Teutsch am 18. Februar 1874 im Deutschen Reichstage abgegeben hat, kommen heute nicht mehr vor; Wahl¬ manifeste, wie sie Antoine 1882 in Metz und Lalance 1887 in Misthaufen Grenzboten I V 1901 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/329>, abgerufen am 20.04.2024.