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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Das Gehirn ist das Organ der psychischen Acte.
Bau dieser zu begreifen. Allbekannte Experimente zeigen nun, wie
zwar das Vonstattengehen der im weiteren Sinne psychischen Thätig-
keiten an das ganze Nervensystem gebunden, wie aber nur das Ge-
hirn, und auch dieses nur in einzelnen seiner Theile, der Sitz des
Vorstellens und Strebens ist. Allerdings kommen sowohl dem Rücken-
marke, als dem Gangliensysteme des Sympathicus nicht bloss Lei-
tungsfunctionen, sondern auch centrale Thätigkeiten der Mittheilung,
Association und Erregung zu (Tonus, Reflexactionen etc.); zu jenen
höheren centralen Thätigkeiten verhalten sie sich aber wieder als
lediglich peripherische. Wohl bieten die Zustände des ganzen Ner-
vensystems, indem sie unmittelbar dem Gehirne sich mittheilen, auch
Elemente zur Erregung und Unterhaltung geistiger Thätigkeiten dar --
von allen peripherischen Nervenausbreitungen aus können Eindrücke
entstehen, welche Anstösse zu Trieben, zu dunkleren oder bewussteren
Vorstellungen und Bestrebungen abgeben können -- aber die Samm-
lung und Aufnahme dieser Eindrücke, der von ihnen ausgeübte Ein-
fluss auf grosse zusammengesetzte Bewegungsreihen (auf das Handeln),
jenes Vorstellen und Streben selbst, das von ihnen influencirt wird,
findet nur im Gehirne statt.

Die inneren Hergänge des Vorstellens und Wollens sind so wenig
als die des Empfindens aus der Organisation des Gehirns zu begreifen.
Dennoch lässen sich die gröberen Schemata der psychischen Thätig-
keiten mit Leichtigkeit an den Bau der betreffenden Theile anknüpfen.
Die in der Schädelhöhle liegende Abtheilung des Centralnervensystems
besteht aus Nervenmassen, welche einerseits die sensitiven Rücken-
marksstränge und die centralen Ausbreitungen der höheren Sinnes-
nerven in sich aufnehmen, von denen andererseits die motorischen
Markstränge ausgehen. Dem entsprechend sehen wir, wie alle aus
dem Körper und durch die Sinne centripetal einfallenden Eindrücke
im Gehirne sich sammeln, percipirt, assimilirt werden, die Geistes-
thätigkeit erregen und unterhalten, und wie von hier aus wieder An-
lässe zu neuen, centrifugalen Acten, Beziehungen der Empfindung
und der Geistesthätigkeiten auf die Action der Bewegungsorgane --
Strebungen und motorische Entladungen in die Muskelapparate ent-
stehen. Mit Recht vergleicht man diese Vorgänge mit dem Kreis-
laufe des Bluts und dem Ganzen der leiblichen Assimilationsprocesse.

Wir sehen, wie in der Thierreihe die psychischen Thätigkeiten
um so mannigfaltiger, reicher und einer um so feineren Ausbildung
fähig werden, je mehr das Gehirn an Volum zunimmt und je ver-
wickelter und gestaltenreicher seine Organisation wird. Wir sehen,

Das Gehirn ist das Organ der psychischen Acte.
Bau dieser zu begreifen. Allbekannte Experimente zeigen nun, wie
zwar das Vonstattengehen der im weiteren Sinne psychischen Thätig-
keiten an das ganze Nervensystem gebunden, wie aber nur das Ge-
hirn, und auch dieses nur in einzelnen seiner Theile, der Sitz des
Vorstellens und Strebens ist. Allerdings kommen sowohl dem Rücken-
marke, als dem Gangliensysteme des Sympathicus nicht bloss Lei-
tungsfunctionen, sondern auch centrale Thätigkeiten der Mittheilung,
Association und Erregung zu (Tonus, Reflexactionen etc.); zu jenen
höheren centralen Thätigkeiten verhalten sie sich aber wieder als
lediglich peripherische. Wohl bieten die Zustände des ganzen Ner-
vensystems, indem sie unmittelbar dem Gehirne sich mittheilen, auch
Elemente zur Erregung und Unterhaltung geistiger Thätigkeiten dar —
von allen peripherischen Nervenausbreitungen aus können Eindrücke
entstehen, welche Anstösse zu Trieben, zu dunkleren oder bewussteren
Vorstellungen und Bestrebungen abgeben können — aber die Samm-
lung und Aufnahme dieser Eindrücke, der von ihnen ausgeübte Ein-
fluss auf grosse zusammengesetzte Bewegungsreihen (auf das Handeln),
jenes Vorstellen und Streben selbst, das von ihnen influencirt wird,
findet nur im Gehirne statt.

Die inneren Hergänge des Vorstellens und Wollens sind so wenig
als die des Empfindens aus der Organisation des Gehirns zu begreifen.
Dennoch lässen sich die gröberen Schemata der psychischen Thätig-
keiten mit Leichtigkeit an den Bau der betreffenden Theile anknüpfen.
Die in der Schädelhöhle liegende Abtheilung des Centralnervensystems
besteht aus Nervenmassen, welche einerseits die sensitiven Rücken-
marksstränge und die centralen Ausbreitungen der höheren Sinnes-
nerven in sich aufnehmen, von denen andererseits die motorischen
Markstränge ausgehen. Dem entsprechend sehen wir, wie alle aus
dem Körper und durch die Sinne centripetal einfallenden Eindrücke
im Gehirne sich sammeln, percipirt, assimilirt werden, die Geistes-
thätigkeit erregen und unterhalten, und wie von hier aus wieder An-
lässe zu neuen, centrifugalen Acten, Beziehungen der Empfindung
und der Geistesthätigkeiten auf die Action der Bewegungsorgane —
Strebungen und motorische Entladungen in die Muskelapparate ent-
stehen. Mit Recht vergleicht man diese Vorgänge mit dem Kreis-
laufe des Bluts und dem Ganzen der leiblichen Assimilationsprocesse.

Wir sehen, wie in der Thierreihe die psychischen Thätigkeiten
um so mannigfaltiger, reicher und einer um so feineren Ausbildung
fähig werden, je mehr das Gehirn an Volum zunimmt und je ver-
wickelter und gestaltenreicher seine Organisation wird. Wir sehen,

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[2/0016] Das Gehirn ist das Organ der psychischen Acte. Bau dieser zu begreifen. Allbekannte Experimente zeigen nun, wie zwar das Vonstattengehen der im weiteren Sinne psychischen Thätig- keiten an das ganze Nervensystem gebunden, wie aber nur das Ge- hirn, und auch dieses nur in einzelnen seiner Theile, der Sitz des Vorstellens und Strebens ist. Allerdings kommen sowohl dem Rücken- marke, als dem Gangliensysteme des Sympathicus nicht bloss Lei- tungsfunctionen, sondern auch centrale Thätigkeiten der Mittheilung, Association und Erregung zu (Tonus, Reflexactionen etc.); zu jenen höheren centralen Thätigkeiten verhalten sie sich aber wieder als lediglich peripherische. Wohl bieten die Zustände des ganzen Ner- vensystems, indem sie unmittelbar dem Gehirne sich mittheilen, auch Elemente zur Erregung und Unterhaltung geistiger Thätigkeiten dar — von allen peripherischen Nervenausbreitungen aus können Eindrücke entstehen, welche Anstösse zu Trieben, zu dunkleren oder bewussteren Vorstellungen und Bestrebungen abgeben können — aber die Samm- lung und Aufnahme dieser Eindrücke, der von ihnen ausgeübte Ein- fluss auf grosse zusammengesetzte Bewegungsreihen (auf das Handeln), jenes Vorstellen und Streben selbst, das von ihnen influencirt wird, findet nur im Gehirne statt. Die inneren Hergänge des Vorstellens und Wollens sind so wenig als die des Empfindens aus der Organisation des Gehirns zu begreifen. Dennoch lässen sich die gröberen Schemata der psychischen Thätig- keiten mit Leichtigkeit an den Bau der betreffenden Theile anknüpfen. Die in der Schädelhöhle liegende Abtheilung des Centralnervensystems besteht aus Nervenmassen, welche einerseits die sensitiven Rücken- marksstränge und die centralen Ausbreitungen der höheren Sinnes- nerven in sich aufnehmen, von denen andererseits die motorischen Markstränge ausgehen. Dem entsprechend sehen wir, wie alle aus dem Körper und durch die Sinne centripetal einfallenden Eindrücke im Gehirne sich sammeln, percipirt, assimilirt werden, die Geistes- thätigkeit erregen und unterhalten, und wie von hier aus wieder An- lässe zu neuen, centrifugalen Acten, Beziehungen der Empfindung und der Geistesthätigkeiten auf die Action der Bewegungsorgane — Strebungen und motorische Entladungen in die Muskelapparate ent- stehen. Mit Recht vergleicht man diese Vorgänge mit dem Kreis- laufe des Bluts und dem Ganzen der leiblichen Assimilationsprocesse. Wir sehen, wie in der Thierreihe die psychischen Thätigkeiten um so mannigfaltiger, reicher und einer um so feineren Ausbildung fähig werden, je mehr das Gehirn an Volum zunimmt und je ver- wickelter und gestaltenreicher seine Organisation wird. Wir sehen,

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/16>, abgerufen am 20.04.2024.