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Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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hatte auf sie verzichtet, sie auf ihn. Die Zeit konnte ausheilen, was so blutig zu zerreißen drohte, er durfte sie an seiner Seite behalten; so war ihr Entschluß, er las es von ihrer Hand geschrieben, oder er glaubte es zu lesen. Nie war sie ihm so schön vor die Seele getreten, nie so reizend; es war ihm, als hätte er sie heute zum ersten Mal geliebt. Aber nur ein Moment solchen Bedenkens kam über ihn; er gab Emil das Papier zurück und sagte milde: Wollen Sie hier ein wenig warten, bis ich wieder komme? Thun Sie's, ich bitte Sie darum. Damit ging er an ihm vorüber und eilte zu der Stelle, wo er Emma verlassen hatte. Diese war aufgestanden und kam ihm langsam entgegen; als sie Beide eine kleine Strecke von Emil entfernt waren, hielt er sie an.

Emma, sagte er, sieh dorthin! Geh' Dem entgegen, der da steht! Was er von dir verlangen wird, was du ihm gewähren möchtest, schenk' es ihm aus vollem Herzen; vergiß mich, denke nicht an mich, wenn du bei ihm bist, ich erlaube es dir, ich befehle es dir, wenn ich darf, und glaube mir, was daraus entsteht, bedürft ihr Beide einer Vorsorge, einer Vermittlung, wendet euch an mich; das ist das Letzte, das ich von dir verlange.

Als er dies gesagt, wandte er sich rasch um und verließ mit eilenden Schritten das Mädchen, das wie leblos vor ihm stand und keine Silbe zu erwidern vermochte. Am Thore des Gebäudes angekommen,

hatte auf sie verzichtet, sie auf ihn. Die Zeit konnte ausheilen, was so blutig zu zerreißen drohte, er durfte sie an seiner Seite behalten; so war ihr Entschluß, er las es von ihrer Hand geschrieben, oder er glaubte es zu lesen. Nie war sie ihm so schön vor die Seele getreten, nie so reizend; es war ihm, als hätte er sie heute zum ersten Mal geliebt. Aber nur ein Moment solchen Bedenkens kam über ihn; er gab Emil das Papier zurück und sagte milde: Wollen Sie hier ein wenig warten, bis ich wieder komme? Thun Sie's, ich bitte Sie darum. Damit ging er an ihm vorüber und eilte zu der Stelle, wo er Emma verlassen hatte. Diese war aufgestanden und kam ihm langsam entgegen; als sie Beide eine kleine Strecke von Emil entfernt waren, hielt er sie an.

Emma, sagte er, sieh dorthin! Geh' Dem entgegen, der da steht! Was er von dir verlangen wird, was du ihm gewähren möchtest, schenk' es ihm aus vollem Herzen; vergiß mich, denke nicht an mich, wenn du bei ihm bist, ich erlaube es dir, ich befehle es dir, wenn ich darf, und glaube mir, was daraus entsteht, bedürft ihr Beide einer Vorsorge, einer Vermittlung, wendet euch an mich; das ist das Letzte, das ich von dir verlange.

Als er dies gesagt, wandte er sich rasch um und verließ mit eilenden Schritten das Mädchen, das wie leblos vor ihm stand und keine Silbe zu erwidern vermochte. Am Thore des Gebäudes angekommen,

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[0074] hatte auf sie verzichtet, sie auf ihn. Die Zeit konnte ausheilen, was so blutig zu zerreißen drohte, er durfte sie an seiner Seite behalten; so war ihr Entschluß, er las es von ihrer Hand geschrieben, oder er glaubte es zu lesen. Nie war sie ihm so schön vor die Seele getreten, nie so reizend; es war ihm, als hätte er sie heute zum ersten Mal geliebt. Aber nur ein Moment solchen Bedenkens kam über ihn; er gab Emil das Papier zurück und sagte milde: Wollen Sie hier ein wenig warten, bis ich wieder komme? Thun Sie's, ich bitte Sie darum. Damit ging er an ihm vorüber und eilte zu der Stelle, wo er Emma verlassen hatte. Diese war aufgestanden und kam ihm langsam entgegen; als sie Beide eine kleine Strecke von Emil entfernt waren, hielt er sie an. Emma, sagte er, sieh dorthin! Geh' Dem entgegen, der da steht! Was er von dir verlangen wird, was du ihm gewähren möchtest, schenk' es ihm aus vollem Herzen; vergiß mich, denke nicht an mich, wenn du bei ihm bist, ich erlaube es dir, ich befehle es dir, wenn ich darf, und glaube mir, was daraus entsteht, bedürft ihr Beide einer Vorsorge, einer Vermittlung, wendet euch an mich; das ist das Letzte, das ich von dir verlange. Als er dies gesagt, wandte er sich rasch um und verließ mit eilenden Schritten das Mädchen, das wie leblos vor ihm stand und keine Silbe zu erwidern vermochte. Am Thore des Gebäudes angekommen,

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:24:04Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:24:04Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/74>, abgerufen am 19.04.2024.