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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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ten Schreiber würde man in irgend einer Recension der Sage
vergebens suchen, sogar es fehlt in einigen die Hauptperson,
Ofterdingen selber. Und muß man eingestehen, die Sage sey
älter als das 16te Jahrh., so hat man damit noch mehr zu-
gegeben. Der jüngste unter den genannt werdenden Meistern
ist Mögelin aus dem 14ten, darum kann sie aber immer höher
hinaufgehen, zumal er einigemal fehlt, und durch Ofterdin-
gen 101) oder Klinsor ersetzt wird. Frauenlob zwar steht im-
mer da, ja meist als allererster, so daß viel ältere auf ihn
folgen. Das beweist gerade, daß sein großer Ruhm ihn an
die Stelle eines unbekannteren gesetzt hat.

Wir, die wir die Werke der alten Meister des 13ten Jahr-
hunderts besser kennen und Mittel mancherlei an Hand haben,
den einfach glaubigen Bericht einer Sage an helle, historische
Puncte zu halten, werden nicht so schnell an die Reise unserer
Dichter im zehnten Jahrhundert nach Pavia oder Paris, wo-
selbst sie in ihrer Singkunst Probe abgelegt und bestanden,
glauben. Allein wir sollen uns hüten, darüber abzusprechen
und wie mit einem harten Luftzug die Asche der alten Tradition
zu zerstäuben. Es ist wahr, die Werke der Poesie, die aus dem
13ten Jahrh. auf uns gekommen sind, schweigen gänzlich der ge-
dächtnißwürdigen, den Dichtern ehrenvollen Begebenheit, ob sie
gleich über den geistlichen Stand voll freier Aussälle sind und
eben das den ganzen Auftritt veranlaßt haben soll. Daraus
scheint etwas wahres hervor. Will man annehmen, er gehöre
wirklich ins zehnte, oder eilfte und zwölfte Jahrhundert, die
spätern Namen seyen in die frühere Geschichte eingetreten, so

101) Einer besonders hierauf gegründeten Vermuthung Büschings:
daß Ofterd. u. Müg. nur eine Person, kann ich schon darum
nicht beistimmen, weil zuweilen beide neben einander unter den
zwölf alten Meistern aufgeführt werden. Andere meinen, Frauen-
lob und Ofterdingen seyen dieselben, allein auch diese beiden
kommen zugleich besonders vor.

ten Schreiber wuͤrde man in irgend einer Recenſion der Sage
vergebens ſuchen, ſogar es fehlt in einigen die Hauptperſon,
Ofterdingen ſelber. Und muß man eingeſtehen, die Sage ſey
aͤlter als das 16te Jahrh., ſo hat man damit noch mehr zu-
gegeben. Der juͤngſte unter den genannt werdenden Meiſtern
iſt Moͤgelin aus dem 14ten, darum kann ſie aber immer hoͤher
hinaufgehen, zumal er einigemal fehlt, und durch Ofterdin-
gen 101) oder Klinſor erſetzt wird. Frauenlob zwar ſteht im-
mer da, ja meiſt als allererſter, ſo daß viel aͤltere auf ihn
folgen. Das beweiſt gerade, daß ſein großer Ruhm ihn an
die Stelle eines unbekannteren geſetzt hat.

Wir, die wir die Werke der alten Meiſter des 13ten Jahr-
hunderts beſſer kennen und Mittel mancherlei an Hand haben,
den einfach glaubigen Bericht einer Sage an helle, hiſtoriſche
Puncte zu halten, werden nicht ſo ſchnell an die Reiſe unſerer
Dichter im zehnten Jahrhundert nach Pavia oder Paris, wo-
ſelbſt ſie in ihrer Singkunſt Probe abgelegt und beſtanden,
glauben. Allein wir ſollen uns huͤten, daruͤber abzuſprechen
und wie mit einem harten Luftzug die Aſche der alten Tradition
zu zerſtaͤuben. Es iſt wahr, die Werke der Poeſie, die aus dem
13ten Jahrh. auf uns gekommen ſind, ſchweigen gaͤnzlich der ge-
daͤchtnißwuͤrdigen, den Dichtern ehrenvollen Begebenheit, ob ſie
gleich uͤber den geiſtlichen Stand voll freier Ausſaͤlle ſind und
eben das den ganzen Auftritt veranlaßt haben ſoll. Daraus
ſcheint etwas wahres hervor. Will man annehmen, er gehoͤre
wirklich ins zehnte, oder eilfte und zwoͤlfte Jahrhundert, die
ſpaͤtern Namen ſeyen in die fruͤhere Geſchichte eingetreten, ſo

101) Einer beſonders hierauf gegruͤndeten Vermuthung Buͤſchings:
daß Ofterd. u. Muͤg. nur eine Perſon, kann ich ſchon darum
nicht beiſtimmen, weil zuweilen beide neben einander unter den
zwoͤlf alten Meiſtern aufgefuͤhrt werden. Andere meinen, Frauen-
lob und Ofterdingen ſeyen dieſelben, allein auch dieſe beiden
kommen zugleich beſonders vor.
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[116/0126] ten Schreiber wuͤrde man in irgend einer Recenſion der Sage vergebens ſuchen, ſogar es fehlt in einigen die Hauptperſon, Ofterdingen ſelber. Und muß man eingeſtehen, die Sage ſey aͤlter als das 16te Jahrh., ſo hat man damit noch mehr zu- gegeben. Der juͤngſte unter den genannt werdenden Meiſtern iſt Moͤgelin aus dem 14ten, darum kann ſie aber immer hoͤher hinaufgehen, zumal er einigemal fehlt, und durch Ofterdin- gen 101) oder Klinſor erſetzt wird. Frauenlob zwar ſteht im- mer da, ja meiſt als allererſter, ſo daß viel aͤltere auf ihn folgen. Das beweiſt gerade, daß ſein großer Ruhm ihn an die Stelle eines unbekannteren geſetzt hat. Wir, die wir die Werke der alten Meiſter des 13ten Jahr- hunderts beſſer kennen und Mittel mancherlei an Hand haben, den einfach glaubigen Bericht einer Sage an helle, hiſtoriſche Puncte zu halten, werden nicht ſo ſchnell an die Reiſe unſerer Dichter im zehnten Jahrhundert nach Pavia oder Paris, wo- ſelbſt ſie in ihrer Singkunſt Probe abgelegt und beſtanden, glauben. Allein wir ſollen uns huͤten, daruͤber abzuſprechen und wie mit einem harten Luftzug die Aſche der alten Tradition zu zerſtaͤuben. Es iſt wahr, die Werke der Poeſie, die aus dem 13ten Jahrh. auf uns gekommen ſind, ſchweigen gaͤnzlich der ge- daͤchtnißwuͤrdigen, den Dichtern ehrenvollen Begebenheit, ob ſie gleich uͤber den geiſtlichen Stand voll freier Ausſaͤlle ſind und eben das den ganzen Auftritt veranlaßt haben ſoll. Daraus ſcheint etwas wahres hervor. Will man annehmen, er gehoͤre wirklich ins zehnte, oder eilfte und zwoͤlfte Jahrhundert, die ſpaͤtern Namen ſeyen in die fruͤhere Geſchichte eingetreten, ſo 101) Einer beſonders hierauf gegruͤndeten Vermuthung Buͤſchings: daß Ofterd. u. Muͤg. nur eine Perſon, kann ich ſchon darum nicht beiſtimmen, weil zuweilen beide neben einander unter den zwoͤlf alten Meiſtern aufgefuͤhrt werden. Andere meinen, Frauen- lob und Ofterdingen ſeyen dieſelben, allein auch dieſe beiden kommen zugleich beſonders vor.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/126>, abgerufen am 29.03.2024.