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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Warum Docen die Gültigkeit meines Beweises, den ich
aus der spätern Ansicht der Meister entnehme, anfechten will,
begreift man schwer, wenn man bedenkt, daß er selbst die
alten Meister so früh, wie ich, annimmt, und dießmal wenig-
stens kein bloßer Minnefänger unter den zwölfen steckt. Ich
habe an die alten Sagen vielfach glauben gelernt, hauptsäch-
lich auf ihnen beruht die ganze historische Erkenntniß der Poesie.
Freilich kann seine Unterscheidung zwischen den alten Meistern
und Nichtmeistern auch hier nicht bestehen, es ist eben so of-
fenbar, daß das Wissen der Meister im 16ten u. 17ten Jahr-
hundert von ihren Vorgängern unvollständig, als daß sie an-
derwärts (namentlich thut das Vogt) manche der alten angeb-
lichen Nichtmeister darunter zählen. Da sich von so offenba-
ren Meistern, z. B. Misner, Werner, Sonnenburg, Robin
keine Töne später gehalten haben, so dürfen wir uns nicht
lange wundern, daß auch keine z. B. von Gottfried von Straß-
burg im Gebrauch geblieben sind.

V. Zeugniß früherer Schriftsteller.

Ich gründe mich auch auf das Verfahren verschiedener
gelehrter Männer des 15ten, 16ten und 17ten Jahrhund., wel-
che sich mit der Poesie älterer Zeit mehrseitig bekannt gemacht
hatten. Wo nun diese der Dichter erwähnen, da stiften sie
keinen Unterschied, sondern nennen die Singer, wie recht,
Meister; am wenigsten stellen sie solche den späterlebenden, ih-
ren Zeitgenossen, entgegen. Aventin an einigen Orten spricht
so bestimmt von alten Meistersängen, daß er dabei an keine
neue Schule derselber denken kann, und er hätte gewiß einen
unrichtigen Ausdruck vermieden, wenn ihm dessen damalige
bestimmte und wohlbekannte Bedeutung für die Vorzeit un-
passend erschienen wäre. Spangenberg hat der Geschichte
des Meistergesangs ein eigenes Werk gewidmet und ohne Zweifel

Warum Docen die Guͤltigkeit meines Beweiſes, den ich
aus der ſpaͤtern Anſicht der Meiſter entnehme, anfechten will,
begreift man ſchwer, wenn man bedenkt, daß er ſelbſt die
alten Meiſter ſo fruͤh, wie ich, annimmt, und dießmal wenig-
ſtens kein bloßer Minnefaͤnger unter den zwoͤlfen ſteckt. Ich
habe an die alten Sagen vielfach glauben gelernt, hauptſaͤch-
lich auf ihnen beruht die ganze hiſtoriſche Erkenntniß der Poeſie.
Freilich kann ſeine Unterſcheidung zwiſchen den alten Meiſtern
und Nichtmeiſtern auch hier nicht beſtehen, es iſt eben ſo of-
fenbar, daß das Wiſſen der Meiſter im 16ten u. 17ten Jahr-
hundert von ihren Vorgaͤngern unvollſtaͤndig, als daß ſie an-
derwaͤrts (namentlich thut das Vogt) manche der alten angeb-
lichen Nichtmeiſter darunter zaͤhlen. Da ſich von ſo offenba-
ren Meiſtern, z. B. Miſner, Werner, Sonnenburg, Robin
keine Toͤne ſpaͤter gehalten haben, ſo duͤrfen wir uns nicht
lange wundern, daß auch keine z. B. von Gottfried von Straß-
burg im Gebrauch geblieben ſind.

V. Zeugniß fruͤherer Schriftſteller.

Ich gruͤnde mich auch auf das Verfahren verſchiedener
gelehrter Maͤnner des 15ten, 16ten und 17ten Jahrhund., wel-
che ſich mit der Poeſie aͤlterer Zeit mehrſeitig bekannt gemacht
hatten. Wo nun dieſe der Dichter erwaͤhnen, da ſtiften ſie
keinen Unterſchied, ſondern nennen die Singer, wie recht,
Meiſter; am wenigſten ſtellen ſie ſolche den ſpaͤterlebenden, ih-
ren Zeitgenoſſen, entgegen. Aventin an einigen Orten ſpricht
ſo beſtimmt von alten Meiſterſaͤngen, daß er dabei an keine
neue Schule derſelber denken kann, und er haͤtte gewiß einen
unrichtigen Ausdruck vermieden, wenn ihm deſſen damalige
beſtimmte und wohlbekannte Bedeutung fuͤr die Vorzeit un-
paſſend erſchienen waͤre. Spangenberg hat der Geſchichte
des Meiſtergeſangs ein eigenes Werk gewidmet und ohne Zweifel

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[121/0131] Warum Docen die Guͤltigkeit meines Beweiſes, den ich aus der ſpaͤtern Anſicht der Meiſter entnehme, anfechten will, begreift man ſchwer, wenn man bedenkt, daß er ſelbſt die alten Meiſter ſo fruͤh, wie ich, annimmt, und dießmal wenig- ſtens kein bloßer Minnefaͤnger unter den zwoͤlfen ſteckt. Ich habe an die alten Sagen vielfach glauben gelernt, hauptſaͤch- lich auf ihnen beruht die ganze hiſtoriſche Erkenntniß der Poeſie. Freilich kann ſeine Unterſcheidung zwiſchen den alten Meiſtern und Nichtmeiſtern auch hier nicht beſtehen, es iſt eben ſo of- fenbar, daß das Wiſſen der Meiſter im 16ten u. 17ten Jahr- hundert von ihren Vorgaͤngern unvollſtaͤndig, als daß ſie an- derwaͤrts (namentlich thut das Vogt) manche der alten angeb- lichen Nichtmeiſter darunter zaͤhlen. Da ſich von ſo offenba- ren Meiſtern, z. B. Miſner, Werner, Sonnenburg, Robin keine Toͤne ſpaͤter gehalten haben, ſo duͤrfen wir uns nicht lange wundern, daß auch keine z. B. von Gottfried von Straß- burg im Gebrauch geblieben ſind. V. Zeugniß fruͤherer Schriftſteller. Ich gruͤnde mich auch auf das Verfahren verſchiedener gelehrter Maͤnner des 15ten, 16ten und 17ten Jahrhund., wel- che ſich mit der Poeſie aͤlterer Zeit mehrſeitig bekannt gemacht hatten. Wo nun dieſe der Dichter erwaͤhnen, da ſtiften ſie keinen Unterſchied, ſondern nennen die Singer, wie recht, Meiſter; am wenigſten ſtellen ſie ſolche den ſpaͤterlebenden, ih- ren Zeitgenoſſen, entgegen. Aventin an einigen Orten ſpricht ſo beſtimmt von alten Meiſterſaͤngen, daß er dabei an keine neue Schule derſelber denken kann, und er haͤtte gewiß einen unrichtigen Ausdruck vermieden, wenn ihm deſſen damalige beſtimmte und wohlbekannte Bedeutung fuͤr die Vorzeit un- paſſend erſchienen waͤre. Spangenberg hat der Geſchichte des Meiſtergeſangs ein eigenes Werk gewidmet und ohne Zweifel

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/131>, abgerufen am 28.03.2024.