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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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I. Provenzalen.

Zuerst nun treten die Provenzaldichter auf, eine Poesie,
von der wir nicht viel mehr wissen 141), als daß ihr Ge-
halt die nordfranzösische weit übertreffe, und bereits genug,
um zu muthmaßen, daß sie an innerer Lebendigkeit und Fülle
hinter unserer deutschen geblieben sey. Ueber ihre Metrik ge-
ben uns einzelne bei Crescimbeni, Nostradam etc. verstreute
Fragmente leider keine vollständige Auskunft. Mannichfaltig-
keit wird man auch ihnen zusprechen müssen, obwohl keine so
große, unerschöpfliche, wie den Altdeutschen. Die dreigliedrige
Structur finde ich in zwei Dritteln der mir vorgekommenen
Lieder hingegen nicht, und daß sie in dem übrigen da ist, ver-
steht sich beinahe von selbst, ich habe vorhin ausgeführt, wie
natürlich dieß Princip dem Gesang liegt 142). Ich kann mir
aber nicht einbilden, daß es bei ihnen bis zur Klarheit einer
unbewußten, und doch allgemein geachteten Regel durchgedrun-
gen sey 143), vielmehr treffe ich eine andere unbedeutendere

141) Ein Herr de Rochegüde soll schon Jahre lang zu Paris mit
dem Studium dieser Dichtkunst umgehen; daß er die H. S.
Palayes endlich einmal edire, ist sehr zu wünschen. Noch mehr,
daß Glöckle in Rom sich auch um die Provenzalen verdient
mache.
142) Ueberflüssig scheint mir daher Docens Frage an mich: ob
ich denn die provenzal. Dichter für unkünstlicher halte, als die
Minnelieder? Das mögen sie seyn oder nicht, und beides wird
sicher statt finden, sobald wir einzelne Fälle gegen einander hal-
ten; worauf es hier ankommt, ist: ob die besondere Structur
in ihnen characteristisch vorwalte, wie im Meistergesang. Denn
an sich ist A. Metzgers Einbeerweis einfacher als nur irgend ein
provenz. Lied seyn kann, oder als viele von Göthe, die ihres
Baues halben auch in den Meisterschulen gelten könnten.
143) Allenfalls läßt sich das selbst aus den Silbenmaßen schließen,
welche die italienische Poesie als Frucht jener Blüthe behalten
hat. Nur in der Canzone ist gründliche Uebereinstimmung mit
unserm Grundsatz, im Sonett aber schon die ungewöhnlichere
I. Provenzalen.

Zuerſt nun treten die Provenzaldichter auf, eine Poeſie,
von der wir nicht viel mehr wiſſen 141), als daß ihr Ge-
halt die nordfranzoͤſiſche weit uͤbertreffe, und bereits genug,
um zu muthmaßen, daß ſie an innerer Lebendigkeit und Fuͤlle
hinter unſerer deutſchen geblieben ſey. Ueber ihre Metrik ge-
ben uns einzelne bei Creſcimbeni, Noſtradam ꝛc. verſtreute
Fragmente leider keine vollſtaͤndige Auskunft. Mannichfaltig-
keit wird man auch ihnen zuſprechen muͤſſen, obwohl keine ſo
große, unerſchoͤpfliche, wie den Altdeutſchen. Die dreigliedrige
Structur finde ich in zwei Dritteln der mir vorgekommenen
Lieder hingegen nicht, und daß ſie in dem uͤbrigen da iſt, ver-
ſteht ſich beinahe von ſelbſt, ich habe vorhin ausgefuͤhrt, wie
natuͤrlich dieß Princip dem Geſang liegt 142). Ich kann mir
aber nicht einbilden, daß es bei ihnen bis zur Klarheit einer
unbewußten, und doch allgemein geachteten Regel durchgedrun-
gen ſey 143), vielmehr treffe ich eine andere unbedeutendere

141) Ein Herr de Rocheguͤde ſoll ſchon Jahre lang zu Paris mit
dem Studium dieſer Dichtkunſt umgehen; daß er die H. S.
Palayes endlich einmal edire, iſt ſehr zu wuͤnſchen. Noch mehr,
daß Gloͤckle in Rom ſich auch um die Provenzalen verdient
mache.
142) Ueberfluͤſſig ſcheint mir daher Docens Frage an mich: ob
ich denn die provenzal. Dichter fuͤr unkuͤnſtlicher halte, als die
Minnelieder? Das moͤgen ſie ſeyn oder nicht, und beides wird
ſicher ſtatt finden, ſobald wir einzelne Faͤlle gegen einander hal-
ten; worauf es hier ankommt, iſt: ob die beſondere Structur
in ihnen characteriſtiſch vorwalte, wie im Meiſtergeſang. Denn
an ſich iſt A. Metzgers Einbeerweis einfacher als nur irgend ein
provenz. Lied ſeyn kann, oder als viele von Goͤthe, die ihres
Baues halben auch in den Meiſterſchulen gelten koͤnnten.
143) Allenfalls laͤßt ſich das ſelbſt aus den Silbenmaßen ſchließen,
welche die italieniſche Poeſie als Frucht jener Bluͤthe behalten
hat. Nur in der Canzone iſt gruͤndliche Uebereinſtimmung mit
unſerm Grundſatz, im Sonett aber ſchon die ungewoͤhnlichere
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[143/0153] I. Provenzalen. Zuerſt nun treten die Provenzaldichter auf, eine Poeſie, von der wir nicht viel mehr wiſſen 141), als daß ihr Ge- halt die nordfranzoͤſiſche weit uͤbertreffe, und bereits genug, um zu muthmaßen, daß ſie an innerer Lebendigkeit und Fuͤlle hinter unſerer deutſchen geblieben ſey. Ueber ihre Metrik ge- ben uns einzelne bei Creſcimbeni, Noſtradam ꝛc. verſtreute Fragmente leider keine vollſtaͤndige Auskunft. Mannichfaltig- keit wird man auch ihnen zuſprechen muͤſſen, obwohl keine ſo große, unerſchoͤpfliche, wie den Altdeutſchen. Die dreigliedrige Structur finde ich in zwei Dritteln der mir vorgekommenen Lieder hingegen nicht, und daß ſie in dem uͤbrigen da iſt, ver- ſteht ſich beinahe von ſelbſt, ich habe vorhin ausgefuͤhrt, wie natuͤrlich dieß Princip dem Geſang liegt 142). Ich kann mir aber nicht einbilden, daß es bei ihnen bis zur Klarheit einer unbewußten, und doch allgemein geachteten Regel durchgedrun- gen ſey 143), vielmehr treffe ich eine andere unbedeutendere 141) Ein Herr de Rocheguͤde ſoll ſchon Jahre lang zu Paris mit dem Studium dieſer Dichtkunſt umgehen; daß er die H. S. Palayes endlich einmal edire, iſt ſehr zu wuͤnſchen. Noch mehr, daß Gloͤckle in Rom ſich auch um die Provenzalen verdient mache. 142) Ueberfluͤſſig ſcheint mir daher Docens Frage an mich: ob ich denn die provenzal. Dichter fuͤr unkuͤnſtlicher halte, als die Minnelieder? Das moͤgen ſie ſeyn oder nicht, und beides wird ſicher ſtatt finden, ſobald wir einzelne Faͤlle gegen einander hal- ten; worauf es hier ankommt, iſt: ob die beſondere Structur in ihnen characteriſtiſch vorwalte, wie im Meiſtergeſang. Denn an ſich iſt A. Metzgers Einbeerweis einfacher als nur irgend ein provenz. Lied ſeyn kann, oder als viele von Goͤthe, die ihres Baues halben auch in den Meiſterſchulen gelten koͤnnten. 143) Allenfalls laͤßt ſich das ſelbſt aus den Silbenmaßen ſchließen, welche die italieniſche Poeſie als Frucht jener Bluͤthe behalten hat. Nur in der Canzone iſt gruͤndliche Uebereinſtimmung mit unſerm Grundſatz, im Sonett aber ſchon die ungewoͤhnlichere

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/153>, abgerufen am 28.03.2024.