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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Was die Formen betrifft, so wäre das vorige zu wieder-
hohlen; bei Thibault von Navarra, ohne Bedenken dem besten
Sänger in der langue d'oeil, zeigen sich mannichfaltige Wei-
sen, von denen einige, und sehr viele nicht zur Anlage des
deutschen Meistergesangs passen. Unter andern hat er schon
förmliche Octaven. Das Wort maitre führen einige Dichter
vor ihren Namen, da sie aber keine der berühmten sind, so
mag es hier auf ein Gewerbe oder einen andern Zustand, nicht
aber ihre Dichtkunst bezogen werden. In den Gedichten selbst
habe ich nach einer solchen speciellen Beziehung vergebens ge-
sucht. Zu bemerken ist, daß ein Paar normännische Dichter
(Adenez, Huon) den Beinamen roi haben, wie das in der
Volkspoesie üblich; etwas näheres über die eigentliche Bedeu-
tung des Titels erfährt man von den französischen Literatoren
nicht, die sich sogar noch besinnen, ob er nicht aus dem Amt
eines Wappenkönigs zu erläutern sey. Man kann alle Ge-
danken an irgend eine bedeutende Einwirkung der nordfranzös.
Poesie auf unsere altdeutsche fahren lassen. Ich weiß zwar,
daß Walter von Metz sogar beiden Nationen und Sprachen
angehört haben soll und daß Eschenbach den Christian von Troyes
gekannt hat, obwohl er ihn bloß nennt, um ihn zu tadeln 171).
Niemals aber sind die eigentlich berühmten französischen Ge-
dichte von uns überfetzt, z. B. der Roman von der Rose und
besonders die vielen von Charlemagne, nie ist die so beliebte
Reimform der erzählenden Gedichte, die langen Alexandriner,
deren eine (unbestimmte) Menge einen einzigen Reim hat, nach-
geahmt worden. Diese Form allein gibt schon einen rechten
Gegensatz zu der deutschen, in welcher der Reim auf der Wur-
zel des Wortes ruht, nicht wie in jener ganz unbedeutsam
und äußerlich auf der Biegung. Gegen die Mitte des 14ten
Jahrh. scheint auch in Frankreich die Mannichfaltigkeit der Lie-

171) Außer der bekannteren Stelle am Schluß des Parcifals ist
auch noch Wilh. der Heil. 2. 57 a) nachzusehen.

Was die Formen betrifft, ſo waͤre das vorige zu wieder-
hohlen; bei Thibault von Navarra, ohne Bedenken dem beſten
Saͤnger in der langue d’oeil, zeigen ſich mannichfaltige Wei-
ſen, von denen einige, und ſehr viele nicht zur Anlage des
deutſchen Meiſtergeſangs paſſen. Unter andern hat er ſchon
foͤrmliche Octaven. Das Wort maitre fuͤhren einige Dichter
vor ihren Namen, da ſie aber keine der beruͤhmten ſind, ſo
mag es hier auf ein Gewerbe oder einen andern Zuſtand, nicht
aber ihre Dichtkunſt bezogen werden. In den Gedichten ſelbſt
habe ich nach einer ſolchen ſpeciellen Beziehung vergebens ge-
ſucht. Zu bemerken iſt, daß ein Paar normaͤnniſche Dichter
(Adenez, Huon) den Beinamen roi haben, wie das in der
Volkspoeſie uͤblich; etwas naͤheres uͤber die eigentliche Bedeu-
tung des Titels erfaͤhrt man von den franzoͤſiſchen Literatoren
nicht, die ſich ſogar noch beſinnen, ob er nicht aus dem Amt
eines Wappenkoͤnigs zu erlaͤutern ſey. Man kann alle Ge-
danken an irgend eine bedeutende Einwirkung der nordfranzoͤſ.
Poeſie auf unſere altdeutſche fahren laſſen. Ich weiß zwar,
daß Walter von Metz ſogar beiden Nationen und Sprachen
angehoͤrt haben ſoll und daß Eſchenbach den Chriſtian von Troyes
gekannt hat, obwohl er ihn bloß nennt, um ihn zu tadeln 171).
Niemals aber ſind die eigentlich beruͤhmten franzoͤſiſchen Ge-
dichte von uns uͤberfetzt, z. B. der Roman von der Roſe und
beſonders die vielen von Charlemagne, nie iſt die ſo beliebte
Reimform der erzaͤhlenden Gedichte, die langen Alexandriner,
deren eine (unbeſtimmte) Menge einen einzigen Reim hat, nach-
geahmt worden. Dieſe Form allein gibt ſchon einen rechten
Gegenſatz zu der deutſchen, in welcher der Reim auf der Wur-
zel des Wortes ruht, nicht wie in jener ganz unbedeutſam
und aͤußerlich auf der Biegung. Gegen die Mitte des 14ten
Jahrh. ſcheint auch in Frankreich die Mannichfaltigkeit der Lie-

171) Außer der bekannteren Stelle am Schluß des Parcifals iſt
auch noch Wilh. der Heil. 2. 57 a) nachzuſehen.
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[154/0164] Was die Formen betrifft, ſo waͤre das vorige zu wieder- hohlen; bei Thibault von Navarra, ohne Bedenken dem beſten Saͤnger in der langue d’oeil, zeigen ſich mannichfaltige Wei- ſen, von denen einige, und ſehr viele nicht zur Anlage des deutſchen Meiſtergeſangs paſſen. Unter andern hat er ſchon foͤrmliche Octaven. Das Wort maitre fuͤhren einige Dichter vor ihren Namen, da ſie aber keine der beruͤhmten ſind, ſo mag es hier auf ein Gewerbe oder einen andern Zuſtand, nicht aber ihre Dichtkunſt bezogen werden. In den Gedichten ſelbſt habe ich nach einer ſolchen ſpeciellen Beziehung vergebens ge- ſucht. Zu bemerken iſt, daß ein Paar normaͤnniſche Dichter (Adenez, Huon) den Beinamen roi haben, wie das in der Volkspoeſie uͤblich; etwas naͤheres uͤber die eigentliche Bedeu- tung des Titels erfaͤhrt man von den franzoͤſiſchen Literatoren nicht, die ſich ſogar noch beſinnen, ob er nicht aus dem Amt eines Wappenkoͤnigs zu erlaͤutern ſey. Man kann alle Ge- danken an irgend eine bedeutende Einwirkung der nordfranzoͤſ. Poeſie auf unſere altdeutſche fahren laſſen. Ich weiß zwar, daß Walter von Metz ſogar beiden Nationen und Sprachen angehoͤrt haben ſoll und daß Eſchenbach den Chriſtian von Troyes gekannt hat, obwohl er ihn bloß nennt, um ihn zu tadeln 171). Niemals aber ſind die eigentlich beruͤhmten franzoͤſiſchen Ge- dichte von uns uͤberfetzt, z. B. der Roman von der Roſe und beſonders die vielen von Charlemagne, nie iſt die ſo beliebte Reimform der erzaͤhlenden Gedichte, die langen Alexandriner, deren eine (unbeſtimmte) Menge einen einzigen Reim hat, nach- geahmt worden. Dieſe Form allein gibt ſchon einen rechten Gegenſatz zu der deutſchen, in welcher der Reim auf der Wur- zel des Wortes ruht, nicht wie in jener ganz unbedeutſam und aͤußerlich auf der Biegung. Gegen die Mitte des 14ten Jahrh. ſcheint auch in Frankreich die Mannichfaltigkeit der Lie- 171) Außer der bekannteren Stelle am Schluß des Parcifals iſt auch noch Wilh. der Heil. 2. 57 a) nachzuſehen.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/164>, abgerufen am 28.03.2024.