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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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derformen außer Gebrauch zu kommen oder von einzelnen be-
stimmten verdrängt zu werden. Man hört seitdem nur noch
von chants royaux, ballades, rondeaux, lais und virelais.
In den ballades, wobei man nicht mehr an die anfängliche
Idee von Tanz denken darf, ist fast immer einige Abweichung,
Cretins seine sind achtreimig und mithin von den italienischen
verschieden; bei Faifeu haben sie zehn Reime. Allein weder
in ihnen noch den funfzehnzeiligen Rondeaux ist meistersänge-
rische Structur.

Die Hauptkünstlichkeit des chant royal (etwa auf obiges
Beiwort roi hindeutend?), und man muß gerade sagen, eine
tödtende, beruht darauf, daß in allen Strophen dieselben
Reime seyn müssen. Die einzelnen Strophen sind von zehn,
bei Marot eilf Zeilen, so daß die letzte immer einen Refrain
macht, am Schluß des Ganzen kommt ein besonderes renvoi
dazu, sonst könnten hier die vier ersten Zeilen die Stollen das
übrige den Abgesang abgeben.

Auf einfachere Weise stößt man seltner, in Molinets be-
kannter Reimchronik hat der Ton einen Anklang von dem
Hildebrandston, welcher indessen so nahe liegt, daß ihn Opiz
in seinem schönen Lied: ist irgend zu erfragen etc. auch von
neuem erfunden hat. Die französischen Dichter nannten sich
damals gern fatistes (Sprecher von phatizein); es sind unter
ihnen wohl früher oder später, gleichwie die Liebeshöfe ins
nördliche Frankreich übergingen auch die Blumenspiele oder doch
rhetorische Gesellschaften in Gebrauch gekommen.

Die Geschichte aller ihrer Förmlichkeiten 172) ermüdet,
indem sie an sich ohne Leben, auf kein früheres hinweisen.


172) Man vergl. Pasquier lib. VII. ch. 5. und die gedruckten
Werke von Cretin, Molinet, die anciennes blasons. (Neue
Samml. daron, Paris 1809. 8.)

derformen außer Gebrauch zu kommen oder von einzelnen be-
ſtimmten verdraͤngt zu werden. Man hoͤrt ſeitdem nur noch
von chants royaux, ballades, rondeaux, lais und virelais.
In den ballades, wobei man nicht mehr an die anfaͤngliche
Idee von Tanz denken darf, iſt faſt immer einige Abweichung,
Cretins ſeine ſind achtreimig und mithin von den italieniſchen
verſchieden; bei Faifeu haben ſie zehn Reime. Allein weder
in ihnen noch den funfzehnzeiligen Rondeaux iſt meiſterſaͤnge-
riſche Structur.

Die Hauptkuͤnſtlichkeit des chant royal (etwa auf obiges
Beiwort roi hindeutend?), und man muß gerade ſagen, eine
toͤdtende, beruht darauf, daß in allen Strophen dieſelben
Reime ſeyn muͤſſen. Die einzelnen Strophen ſind von zehn,
bei Marot eilf Zeilen, ſo daß die letzte immer einen Refrain
macht, am Schluß des Ganzen kommt ein beſonderes renvoi
dazu, ſonſt koͤnnten hier die vier erſten Zeilen die Stollen das
uͤbrige den Abgeſang abgeben.

Auf einfachere Weiſe ſtoͤßt man ſeltner, in Molinets be-
kannter Reimchronik hat der Ton einen Anklang von dem
Hildebrandston, welcher indeſſen ſo nahe liegt, daß ihn Opiz
in ſeinem ſchoͤnen Lied: iſt irgend zu erfragen ꝛc. auch von
neuem erfunden hat. Die franzoͤſiſchen Dichter nannten ſich
damals gern fatistes (Sprecher von φατιζειν); es ſind unter
ihnen wohl fruͤher oder ſpaͤter, gleichwie die Liebeshoͤfe ins
noͤrdliche Frankreich uͤbergingen auch die Blumenſpiele oder doch
rhetoriſche Geſellſchaften in Gebrauch gekommen.

Die Geſchichte aller ihrer Foͤrmlichkeiten 172) ermuͤdet,
indem ſie an ſich ohne Leben, auf kein fruͤheres hinweiſen.


172) Man vergl. Pasquier lib. VII. ch. 5. und die gedruckten
Werke von Cretin, Molinet, die anciennes blasons. (Neue
Samml. daron, Paris 1809. 8.)
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[155/0165] derformen außer Gebrauch zu kommen oder von einzelnen be- ſtimmten verdraͤngt zu werden. Man hoͤrt ſeitdem nur noch von chants royaux, ballades, rondeaux, lais und virelais. In den ballades, wobei man nicht mehr an die anfaͤngliche Idee von Tanz denken darf, iſt faſt immer einige Abweichung, Cretins ſeine ſind achtreimig und mithin von den italieniſchen verſchieden; bei Faifeu haben ſie zehn Reime. Allein weder in ihnen noch den funfzehnzeiligen Rondeaux iſt meiſterſaͤnge- riſche Structur. Die Hauptkuͤnſtlichkeit des chant royal (etwa auf obiges Beiwort roi hindeutend?), und man muß gerade ſagen, eine toͤdtende, beruht darauf, daß in allen Strophen dieſelben Reime ſeyn muͤſſen. Die einzelnen Strophen ſind von zehn, bei Marot eilf Zeilen, ſo daß die letzte immer einen Refrain macht, am Schluß des Ganzen kommt ein beſonderes renvoi dazu, ſonſt koͤnnten hier die vier erſten Zeilen die Stollen das uͤbrige den Abgeſang abgeben. Auf einfachere Weiſe ſtoͤßt man ſeltner, in Molinets be- kannter Reimchronik hat der Ton einen Anklang von dem Hildebrandston, welcher indeſſen ſo nahe liegt, daß ihn Opiz in ſeinem ſchoͤnen Lied: iſt irgend zu erfragen ꝛc. auch von neuem erfunden hat. Die franzoͤſiſchen Dichter nannten ſich damals gern fatistes (Sprecher von φατιζειν); es ſind unter ihnen wohl fruͤher oder ſpaͤter, gleichwie die Liebeshoͤfe ins noͤrdliche Frankreich uͤbergingen auch die Blumenſpiele oder doch rhetoriſche Geſellſchaften in Gebrauch gekommen. Die Geſchichte aller ihrer Foͤrmlichkeiten 172) ermuͤdet, indem ſie an ſich ohne Leben, auf kein fruͤheres hinweiſen. 172) Man vergl. Pasquier lib. VII. ch. 5. und die gedruckten Werke von Cretin, Molinet, die anciennes blasons. (Neue Samml. daron, Paris 1809. 8.)

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/165>, abgerufen am 28.03.2024.