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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Gegen das dreizehnte Jahrhundert hin, bis wo man
nichts als die lang gemessenen Laute alter Heldenlieder gesun-
gen und gehört 26), erschallt auf einmal, wie aus der Erde
gestiegen, ein wunderbares Gewimmel von Tönen und Klän-
gen. Von weitem meinen wir denselben Grundton zu verneh-
men, treten wir aber näher, so will keine Weise der andern
gleich seyn. Es strebt die eine sich noch einmal höher zu he-
ben, die andere, wieder herunter zu sinken, und mildernd zu
mäßigen, was die eine wiederhohlt, spricht die andere nur
halb aus. Denkt man dabei an die begleitende Musik, so
kann diese schon wegen der Menge Stimmen, denen die In-
strumente nicht genügt hätten, nicht anders, als höchst einfach
gewesen seyn. Sie muß beinahe mit in den Reimen gelegen,
und zwar der Harmonie, nicht aber der Melodie entbehrt ha-
ben 27). Tausend reine bunte Farben liegen dahin gebreitet,
grell fröhlich an einander gesetzt, gar selten vermischt, daher
es kommt, daß alle Minnelieder selbst die verschiedensten sich
dennoch zu gleichen scheinen. Diese Dichter haben sich selbst
Nachtigallen genannt 28), und gewißlich könnte man auch durch

26) Oder in kurzen einfachen Reimzeilen erzählt. Otfrieds Evan-
gelia waren so wenig für den Gesang, als Werners Maria,
allein Ludwigs Ehrenlied wurde doch gesungen, und nicht un-
möglich auch König Rother in dessen abweichender Form das
unvolksmäßige beigemischte Element vorzüglich anzuerkennen.
27) Es verdient besonders untersucht zu werden, ob sich nicht auch
darin der Meistersang von dem Volkslied unterscheide, wie ich
vermuthe, daß das natürliche allgemeine Moll dem letztern,
das individuelle Dur dem erstern gemäß ist.
28) Ich begnüge mich hier an Gottfrieds von Straßburg be-
kannte Stelle zu erinnern, Tristan 4631 etc. Da er hier bloß
von erzählenden Meistern reden will, so scheidet er ganz recht
bloße Liederdichter, wie den von Hagenau und Walter von
den vorgenannten Veldeck, Blicker, Hartmann u. s. w.,
ob gleich diese auch einige Lieder gemacht. Jene aber: "horent
nicht zu dirre schar." An einen Unterschied zwischen Meistern

Gegen das dreizehnte Jahrhundert hin, bis wo man
nichts als die lang gemeſſenen Laute alter Heldenlieder geſun-
gen und gehoͤrt 26), erſchallt auf einmal, wie aus der Erde
geſtiegen, ein wunderbares Gewimmel von Toͤnen und Klaͤn-
gen. Von weitem meinen wir denſelben Grundton zu verneh-
men, treten wir aber naͤher, ſo will keine Weiſe der andern
gleich ſeyn. Es ſtrebt die eine ſich noch einmal hoͤher zu he-
ben, die andere, wieder herunter zu ſinken, und mildernd zu
maͤßigen, was die eine wiederhohlt, ſpricht die andere nur
halb aus. Denkt man dabei an die begleitende Muſik, ſo
kann dieſe ſchon wegen der Menge Stimmen, denen die In-
ſtrumente nicht genuͤgt haͤtten, nicht anders, als hoͤchſt einfach
geweſen ſeyn. Sie muß beinahe mit in den Reimen gelegen,
und zwar der Harmonie, nicht aber der Melodie entbehrt ha-
ben 27). Tauſend reine bunte Farben liegen dahin gebreitet,
grell froͤhlich an einander geſetzt, gar ſelten vermiſcht, daher
es kommt, daß alle Minnelieder ſelbſt die verſchiedenſten ſich
dennoch zu gleichen ſcheinen. Dieſe Dichter haben ſich ſelbſt
Nachtigallen genannt 28), und gewißlich koͤnnte man auch durch

26) Oder in kurzen einfachen Reimzeilen erzaͤhlt. Otfrieds Evan-
gelia waren ſo wenig fuͤr den Geſang, als Werners Maria,
allein Ludwigs Ehrenlied wurde doch geſungen, und nicht un-
moͤglich auch Koͤnig Rother in deſſen abweichender Form das
unvolksmaͤßige beigemiſchte Element vorzuͤglich anzuerkennen.
27) Es verdient beſonders unterſucht zu werden, ob ſich nicht auch
darin der Meiſterſang von dem Volkslied unterſcheide, wie ich
vermuthe, daß das natuͤrliche allgemeine Moll dem letztern,
das individuelle Dur dem erſtern gemaͤß iſt.
28) Ich begnuͤge mich hier an Gottfrieds von Straßburg be-
kannte Stelle zu erinnern, Triſtan 4631 ꝛc. Da er hier bloß
von erzaͤhlenden Meiſtern reden will, ſo ſcheidet er ganz recht
bloße Liederdichter, wie den von Hagenau und Walter von
den vorgenannten Veldeck, Blicker, Hartmann u. ſ. w.,
ob gleich dieſe auch einige Lieder gemacht. Jene aber: „horent
nicht zu dirre ſchar.“ An einen Unterſchied zwiſchen Meiſtern
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[37/0047] Gegen das dreizehnte Jahrhundert hin, bis wo man nichts als die lang gemeſſenen Laute alter Heldenlieder geſun- gen und gehoͤrt 26), erſchallt auf einmal, wie aus der Erde geſtiegen, ein wunderbares Gewimmel von Toͤnen und Klaͤn- gen. Von weitem meinen wir denſelben Grundton zu verneh- men, treten wir aber naͤher, ſo will keine Weiſe der andern gleich ſeyn. Es ſtrebt die eine ſich noch einmal hoͤher zu he- ben, die andere, wieder herunter zu ſinken, und mildernd zu maͤßigen, was die eine wiederhohlt, ſpricht die andere nur halb aus. Denkt man dabei an die begleitende Muſik, ſo kann dieſe ſchon wegen der Menge Stimmen, denen die In- ſtrumente nicht genuͤgt haͤtten, nicht anders, als hoͤchſt einfach geweſen ſeyn. Sie muß beinahe mit in den Reimen gelegen, und zwar der Harmonie, nicht aber der Melodie entbehrt ha- ben 27). Tauſend reine bunte Farben liegen dahin gebreitet, grell froͤhlich an einander geſetzt, gar ſelten vermiſcht, daher es kommt, daß alle Minnelieder ſelbſt die verſchiedenſten ſich dennoch zu gleichen ſcheinen. Dieſe Dichter haben ſich ſelbſt Nachtigallen genannt 28), und gewißlich koͤnnte man auch durch 26) Oder in kurzen einfachen Reimzeilen erzaͤhlt. Otfrieds Evan- gelia waren ſo wenig fuͤr den Geſang, als Werners Maria, allein Ludwigs Ehrenlied wurde doch geſungen, und nicht un- moͤglich auch Koͤnig Rother in deſſen abweichender Form das unvolksmaͤßige beigemiſchte Element vorzuͤglich anzuerkennen. 27) Es verdient beſonders unterſucht zu werden, ob ſich nicht auch darin der Meiſterſang von dem Volkslied unterſcheide, wie ich vermuthe, daß das natuͤrliche allgemeine Moll dem letztern, das individuelle Dur dem erſtern gemaͤß iſt. 28) Ich begnuͤge mich hier an Gottfrieds von Straßburg be- kannte Stelle zu erinnern, Triſtan 4631 ꝛc. Da er hier bloß von erzaͤhlenden Meiſtern reden will, ſo ſcheidet er ganz recht bloße Liederdichter, wie den von Hagenau und Walter von den vorgenannten Veldeck, Blicker, Hartmann u. ſ. w., ob gleich dieſe auch einige Lieder gemacht. Jene aber: „horent nicht zu dirre ſchar.“ An einen Unterſchied zwiſchen Meiſtern

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/47>, abgerufen am 29.03.2024.