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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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und sind sie gleich ausgetheilt, sehr verschieden verflochten seyn.
Und findet sich selbst hierin Uebereinkunft, so macht die ab-
wechselnde Silbenzahl neue Differenzen möglich, so wie auch
die verschiedene Anwendung männlicher und weiblicher Reime.
Denn wird in vielen besonders älteren Liedern der letzte Un-
terschied nicht beachtet 55), so sehen andere unleugbar darauf 56).

Das, was wir jetzo reiche Reime nennen, findet sich wohl
in einigen Meisterliedern, cf. Nifen bei Benecke n. XVIII.,
aber daß diese künstliche Zugabe vom eigentlichen Ton ganz
unabhängig, beweise ich mit einem der letzten Lieder des Weim.
Codex in des Regenbogen langem Ton, in welchem sonst keine
reiche Reime stehen, hier aber hinzugefügt worden sind. Spä-
ter hießen sie rührende Reime und waren verboten. Wagen-
seil
519.

Bei den späteren Meistern, zu denen ich mich wende, fin-
den wir dieselbe characteristische Tonmannichfaltigkeit. Dennoch
stehen sie hinter den älteren an Erfindung zurück. Wagen-
seils
bekanntes Verzeichniß begreift nur 221 Töne, und dar-
unter schon einige ältere, die Zahl der Meister fällt dafür fast
noch ansehnlicher aus. Freilich ist es unvollständig und geht
nicht über die Töne von 34 Reimen hinaus, ich könnte es
schon jetzo mit gegen 100 Tönen bereichern. Man muß aber
zur Erklärung des immer bleibenden Abstandes hinzunehmen,
daß späterhin die Nachbildung alter Töne häufiger wurde, (wo-
von unten).

Die einfachen Töne sind verhältnißmäßig weniger beliebt,
natürlich weil die Formen immer steifer wurden, nachdem aber
im einfachen, feinen alles schon erstarrt und geschlossen, immer

55) Gleich das erste Lied der maneß. S. -- oder Walter 1. 108.
(ein nüwer etc.) -- oder Tugendh. Schr. 2. 104. (so wol etc.)
56) Walter 1. 109. (do der sumer etc.) Conrad v. Wirzb. 2.
203. (gar bar lit etc.)

und ſind ſie gleich ausgetheilt, ſehr verſchieden verflochten ſeyn.
Und findet ſich ſelbſt hierin Uebereinkunft, ſo macht die ab-
wechſelnde Silbenzahl neue Differenzen moͤglich, ſo wie auch
die verſchiedene Anwendung maͤnnlicher und weiblicher Reime.
Denn wird in vielen beſonders aͤlteren Liedern der letzte Un-
terſchied nicht beachtet 55), ſo ſehen andere unleugbar darauf 56).

Das, was wir jetzo reiche Reime nennen, findet ſich wohl
in einigen Meiſterliedern, cf. Nifen bei Benecke n. XVIII.,
aber daß dieſe kuͤnſtliche Zugabe vom eigentlichen Ton ganz
unabhaͤngig, beweiſe ich mit einem der letzten Lieder des Weim.
Codex in des Regenbogen langem Ton, in welchem ſonſt keine
reiche Reime ſtehen, hier aber hinzugefuͤgt worden ſind. Spaͤ-
ter hießen ſie ruͤhrende Reime und waren verboten. Wagen-
ſeil
519.

Bei den ſpaͤteren Meiſtern, zu denen ich mich wende, fin-
den wir dieſelbe characteriſtiſche Tonmannichfaltigkeit. Dennoch
ſtehen ſie hinter den aͤlteren an Erfindung zuruͤck. Wagen-
ſeils
bekanntes Verzeichniß begreift nur 221 Toͤne, und dar-
unter ſchon einige aͤltere, die Zahl der Meiſter faͤllt dafuͤr faſt
noch anſehnlicher aus. Freilich iſt es unvollſtaͤndig und geht
nicht uͤber die Toͤne von 34 Reimen hinaus, ich koͤnnte es
ſchon jetzo mit gegen 100 Toͤnen bereichern. Man muß aber
zur Erklaͤrung des immer bleibenden Abſtandes hinzunehmen,
daß ſpaͤterhin die Nachbildung alter Toͤne haͤufiger wurde, (wo-
von unten).

Die einfachen Toͤne ſind verhaͤltnißmaͤßig weniger beliebt,
natuͤrlich weil die Formen immer ſteifer wurden, nachdem aber
im einfachen, feinen alles ſchon erſtarrt und geſchloſſen, immer

55) Gleich das erſte Lied der maneß. S. — oder Walter 1. 108.
(ein nuͤwer ꝛc.) — oder Tugendh. Schr. 2. 104. (ſo wol ꝛc.)
56) Walter 1. 109. (do der ſumer ꝛc.) Conrad v. Wirzb. 2.
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[73/0083] und ſind ſie gleich ausgetheilt, ſehr verſchieden verflochten ſeyn. Und findet ſich ſelbſt hierin Uebereinkunft, ſo macht die ab- wechſelnde Silbenzahl neue Differenzen moͤglich, ſo wie auch die verſchiedene Anwendung maͤnnlicher und weiblicher Reime. Denn wird in vielen beſonders aͤlteren Liedern der letzte Un- terſchied nicht beachtet 55), ſo ſehen andere unleugbar darauf 56). Das, was wir jetzo reiche Reime nennen, findet ſich wohl in einigen Meiſterliedern, cf. Nifen bei Benecke n. XVIII., aber daß dieſe kuͤnſtliche Zugabe vom eigentlichen Ton ganz unabhaͤngig, beweiſe ich mit einem der letzten Lieder des Weim. Codex in des Regenbogen langem Ton, in welchem ſonſt keine reiche Reime ſtehen, hier aber hinzugefuͤgt worden ſind. Spaͤ- ter hießen ſie ruͤhrende Reime und waren verboten. Wagen- ſeil 519. Bei den ſpaͤteren Meiſtern, zu denen ich mich wende, fin- den wir dieſelbe characteriſtiſche Tonmannichfaltigkeit. Dennoch ſtehen ſie hinter den aͤlteren an Erfindung zuruͤck. Wagen- ſeils bekanntes Verzeichniß begreift nur 221 Toͤne, und dar- unter ſchon einige aͤltere, die Zahl der Meiſter faͤllt dafuͤr faſt noch anſehnlicher aus. Freilich iſt es unvollſtaͤndig und geht nicht uͤber die Toͤne von 34 Reimen hinaus, ich koͤnnte es ſchon jetzo mit gegen 100 Toͤnen bereichern. Man muß aber zur Erklaͤrung des immer bleibenden Abſtandes hinzunehmen, daß ſpaͤterhin die Nachbildung alter Toͤne haͤufiger wurde, (wo- von unten). Die einfachen Toͤne ſind verhaͤltnißmaͤßig weniger beliebt, natuͤrlich weil die Formen immer ſteifer wurden, nachdem aber im einfachen, feinen alles ſchon erſtarrt und geſchloſſen, immer 55) Gleich das erſte Lied der maneß. S. — oder Walter 1. 108. (ein nuͤwer ꝛc.) — oder Tugendh. Schr. 2. 104. (ſo wol ꝛc.) 56) Walter 1. 109. (do der ſumer ꝛc.) Conrad v. Wirzb. 2. 203. (gar bar lit ꝛc.)

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/83>, abgerufen am 28.03.2024.