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Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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O wie prosaisch! Wie schmerzt es mich, Frau Conrectorin, daß Sie eine hochgestimmte Seele, ein fühlendes Herz so wenig verstehen wollen, verstehen können! -- Ich sehe, ich muß ausführlicher sein, fuhr er nach einer Pause fort. Sie waren das Letztemal so freundlich, ein erschütterndes Lebensgemälde zu entwerfen von einer Dulderin, einem Seraph, einem Wesen, welches -- --

Nehmen Sie mir's nicht übel, Vetterchen, wenn ich Sie unterbreche, sagte die Conrectorin etwas verdrießlich. Ich habe es schon hundertmal bereut, daß ich fremde Geheimnisse nicht besser zu bewahren verstand. Es thäte mir sehr leid, wenn Ihr reines, unerfahrenes Gemüth dadurch alterirt und mit unheiligen Dingen erfüllt würde.

Unheilige Dinge -- ich verstehe Sie heute nicht, Frau Conrectorin, sagte der Vetter und richtete den matten Blick seiner wasserblauen Augen, so fest er konnte, auf die schelmische Frau.

Sprechen Sie mir, wovon Sie wollen, fuhr die Frau Conrectorin fort -- nur nicht von Der da drüben.

Nur nicht von Der da drüben? -- Vetter Isidor saß in der That jetzt mit offenem Munde.

Ja wohl, Vetterchen, fuhr die Frau fort, und diesmal mit eifrigstem Tone. Gott weiß, was für eine Schilderung ich gemacht habe, und wie ich dazu gekommen bin, Ihnen jene dumme Geschichte zu erzählen. Es war eben das reine Mitleid, aber man ist immer noch unbedacht in seinen alten Tagen; inzwischen sind mir

O wie prosaisch! Wie schmerzt es mich, Frau Conrectorin, daß Sie eine hochgestimmte Seele, ein fühlendes Herz so wenig verstehen wollen, verstehen können! — Ich sehe, ich muß ausführlicher sein, fuhr er nach einer Pause fort. Sie waren das Letztemal so freundlich, ein erschütterndes Lebensgemälde zu entwerfen von einer Dulderin, einem Seraph, einem Wesen, welches — —

Nehmen Sie mir's nicht übel, Vetterchen, wenn ich Sie unterbreche, sagte die Conrectorin etwas verdrießlich. Ich habe es schon hundertmal bereut, daß ich fremde Geheimnisse nicht besser zu bewahren verstand. Es thäte mir sehr leid, wenn Ihr reines, unerfahrenes Gemüth dadurch alterirt und mit unheiligen Dingen erfüllt würde.

Unheilige Dinge — ich verstehe Sie heute nicht, Frau Conrectorin, sagte der Vetter und richtete den matten Blick seiner wasserblauen Augen, so fest er konnte, auf die schelmische Frau.

Sprechen Sie mir, wovon Sie wollen, fuhr die Frau Conrectorin fort — nur nicht von Der da drüben.

Nur nicht von Der da drüben? — Vetter Isidor saß in der That jetzt mit offenem Munde.

Ja wohl, Vetterchen, fuhr die Frau fort, und diesmal mit eifrigstem Tone. Gott weiß, was für eine Schilderung ich gemacht habe, und wie ich dazu gekommen bin, Ihnen jene dumme Geschichte zu erzählen. Es war eben das reine Mitleid, aber man ist immer noch unbedacht in seinen alten Tagen; inzwischen sind mir

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[0045] O wie prosaisch! Wie schmerzt es mich, Frau Conrectorin, daß Sie eine hochgestimmte Seele, ein fühlendes Herz so wenig verstehen wollen, verstehen können! — Ich sehe, ich muß ausführlicher sein, fuhr er nach einer Pause fort. Sie waren das Letztemal so freundlich, ein erschütterndes Lebensgemälde zu entwerfen von einer Dulderin, einem Seraph, einem Wesen, welches — — Nehmen Sie mir's nicht übel, Vetterchen, wenn ich Sie unterbreche, sagte die Conrectorin etwas verdrießlich. Ich habe es schon hundertmal bereut, daß ich fremde Geheimnisse nicht besser zu bewahren verstand. Es thäte mir sehr leid, wenn Ihr reines, unerfahrenes Gemüth dadurch alterirt und mit unheiligen Dingen erfüllt würde. Unheilige Dinge — ich verstehe Sie heute nicht, Frau Conrectorin, sagte der Vetter und richtete den matten Blick seiner wasserblauen Augen, so fest er konnte, auf die schelmische Frau. Sprechen Sie mir, wovon Sie wollen, fuhr die Frau Conrectorin fort — nur nicht von Der da drüben. Nur nicht von Der da drüben? — Vetter Isidor saß in der That jetzt mit offenem Munde. Ja wohl, Vetterchen, fuhr die Frau fort, und diesmal mit eifrigstem Tone. Gott weiß, was für eine Schilderung ich gemacht habe, und wie ich dazu gekommen bin, Ihnen jene dumme Geschichte zu erzählen. Es war eben das reine Mitleid, aber man ist immer noch unbedacht in seinen alten Tagen; inzwischen sind mir

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:31:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:31:15Z)

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Zitationshilfe: Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/45>, abgerufen am 29.03.2024.