[Gutzkow, Karl:] Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832.Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, aus jeder Bewegung der Hand die Absicht dessen, der sie macht, zu erfahren; wir können untrüglichst von einer unbewachten Haltung des Kopfes oder der leisesten Krümmung der Nase auf die geheimsten Absichten des Herzens schließen; ein absichtlicher Betrug wird bald nicht mehr möglich sein. Wir haben uns zu viel gerührt, sind zu mannigfach thätig gewesen, als daß wir uns in unserm Thun nicht sogleich errathen sollten. Alle Anstöße kommen von Außen; es wird Zeit sein, die Menschen an eine höhere Lenkung der Ereignisse zu erinnern. Es ist eine thörichte Verblendung der Fürsten, wenn sie durch Couriere, versiegelte Depeschen, Privataudienzen und Gesandtschaften die Wünsche der Nationen zu befriedigen denken. Man braucht Herrn Martens Guide diplomatique nicht zu studiren, und wird doch finden, daß die Diplomatie kein Geheimniß mehr ist. Ich habe einen Vetter in London, Gesandtschaftssecretär im Auswärtigen Amte, der mir die Entwürfe der Protokolle schon mittheilt, die in einem Jahre erst sollen publicirt werden. Aber auch ohne ihn wüßt' ich den Inhalt der officiellen Noten, die gegeben würden, wenn sich Irland von England, Italien von Oesterreich, Polen von den drei Mächten und Deutschland von sich selbst, vom Bundestage losgerissen hätten. Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, aus jeder Bewegung der Hand die Absicht dessen, der sie macht, zu erfahren; wir können untrüglichst von einer unbewachten Haltung des Kopfes oder der leisesten Krümmung der Nase auf die geheimsten Absichten des Herzens schließen; ein absichtlicher Betrug wird bald nicht mehr möglich sein. Wir haben uns zu viel gerührt, sind zu mannigfach thätig gewesen, als daß wir uns in unserm Thun nicht sogleich errathen sollten. Alle Anstöße kommen von Außen; es wird Zeit sein, die Menschen an eine höhere Lenkung der Ereignisse zu erinnern. Es ist eine thörichte Verblendung der Fürsten, wenn sie durch Couriere, versiegelte Depeschen, Privataudienzen und Gesandtschaften die Wünsche der Nationen zu befriedigen denken. Man braucht Herrn Martens Guide diplomatique nicht zu studiren, und wird doch finden, daß die Diplomatie kein Geheimniß mehr ist. Ich habe einen Vetter in London, Gesandtschaftssecretär im Auswärtigen Amte, der mir die Entwürfe der Protokolle schon mittheilt, die in einem Jahre erst sollen publicirt werden. Aber auch ohne ihn wüßt’ ich den Inhalt der officiellen Noten, die gegeben würden, wenn sich Irland von England, Italien von Oesterreich, Polen von den drei Mächten und Deutschland von sich selbst, vom Bundestage losgerissen hätten. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0300" n="287"/> Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, aus jeder Bewegung der Hand die Absicht dessen, der sie macht, zu erfahren; wir können untrüglichst von einer unbewachten Haltung des Kopfes oder der leisesten Krümmung der Nase auf die geheimsten Absichten des Herzens schließen; ein absichtlicher Betrug wird bald nicht mehr möglich sein. Wir haben uns zu viel gerührt, sind zu mannigfach thätig gewesen, als daß wir uns in unserm Thun nicht sogleich errathen sollten. Alle Anstöße kommen von Außen; es wird Zeit sein, die Menschen an eine höhere Lenkung der Ereignisse zu erinnern.</p> <p>Es ist eine thörichte Verblendung der Fürsten, wenn sie durch Couriere, versiegelte Depeschen, Privataudienzen und Gesandtschaften die Wünsche der Nationen zu befriedigen denken. Man braucht Herrn Martens <hi rendition="#aq">Guide diplomatique</hi> nicht zu studiren, und wird doch finden, daß die Diplomatie kein Geheimniß mehr ist. Ich habe einen Vetter in London, Gesandtschaftssecretär im Auswärtigen Amte, der mir die Entwürfe der Protokolle schon mittheilt, die in einem Jahre erst sollen publicirt werden. Aber auch ohne ihn wüßt’ ich den Inhalt der officiellen Noten, die gegeben würden, wenn sich Irland von England, Italien von Oesterreich, Polen von den drei Mächten und Deutschland von sich selbst, vom Bundestage losgerissen hätten. </p> </div> </body> </text> </TEI> [287/0300]
Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, aus jeder Bewegung der Hand die Absicht dessen, der sie macht, zu erfahren; wir können untrüglichst von einer unbewachten Haltung des Kopfes oder der leisesten Krümmung der Nase auf die geheimsten Absichten des Herzens schließen; ein absichtlicher Betrug wird bald nicht mehr möglich sein. Wir haben uns zu viel gerührt, sind zu mannigfach thätig gewesen, als daß wir uns in unserm Thun nicht sogleich errathen sollten. Alle Anstöße kommen von Außen; es wird Zeit sein, die Menschen an eine höhere Lenkung der Ereignisse zu erinnern.
Es ist eine thörichte Verblendung der Fürsten, wenn sie durch Couriere, versiegelte Depeschen, Privataudienzen und Gesandtschaften die Wünsche der Nationen zu befriedigen denken. Man braucht Herrn Martens Guide diplomatique nicht zu studiren, und wird doch finden, daß die Diplomatie kein Geheimniß mehr ist. Ich habe einen Vetter in London, Gesandtschaftssecretär im Auswärtigen Amte, der mir die Entwürfe der Protokolle schon mittheilt, die in einem Jahre erst sollen publicirt werden. Aber auch ohne ihn wüßt’ ich den Inhalt der officiellen Noten, die gegeben würden, wenn sich Irland von England, Italien von Oesterreich, Polen von den drei Mächten und Deutschland von sich selbst, vom Bundestage losgerissen hätten.
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Zitationshilfe: | [Gutzkow, Karl:] Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_narren_1832/300>, abgerufen am 31.03.2023. |