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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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Wir treiben jetzt alle wieder unser solides Geschäft und wiegen unsre Gewürze - dennoch ist es mir oft, als vernähm' ich unterirdisch ein dumpfes Gähren und Brausen, ein Sieden und Rollen. Jch male mir eine Zukunft mit den schreiendsten Farben aus und muß an mein überwältigtes, zu ersticken drohendes Herz greifen und mir zuflüstern: Wär's möglich?

Jch gehöre weder zu den Fatalisten noch zu den Radikalen. Jch werde immer annehmen, daß die europäische Gesellschaft einem Körper gleicht, für dessen Zustand die Sydenhame und Boerhave der Staatskunst noch Mittel und sogar spezifische übrig haben. Jch glaube, daß den Völkern die Revolution einen so großen Kampf gegen ihr Herz und Gewissen kostet, daß sie Jeden anbeten würden, der den Kelch an ihnen vorübergehen läßt. Jch glaub' auch, daß dieß Gefühl so durchgreifend in Europa die Oberhand hat, daß aller Streit in der Politik mir nur daher zu kommen scheint, ob die Staatskunst positive oder negative Gesichtspunkte haben soll; ob es besser ist zu konstituiren oder nur vorzubeugen, mit einem Worte, ob man die Thatsache der Revolution anerkennt oder nicht. Niemand will sie. Die Frage ist nur: Wie vermeidet man sie? Hier divergiren die Meinungen. Die Einen wollen sie ignoriren; die Andern wollen ihr zuvorkommen. Jene wollen der Revolution die Macht nehmen, daß sie nicht ausbrechen kann; diese wollen ihr den Grund, das Recht der Berufung nehmen, so daß sie nicht ausbrechen darf.

Wir treiben jetzt alle wieder unser solides Geschäft und wiegen unsre Gewürze – dennoch ist es mir oft, als vernähm’ ich unterirdisch ein dumpfes Gähren und Brausen, ein Sieden und Rollen. Jch male mir eine Zukunft mit den schreiendsten Farben aus und muß an mein überwältigtes, zu ersticken drohendes Herz greifen und mir zuflüstern: Wär’s möglich?

Jch gehöre weder zu den Fatalisten noch zu den Radikalen. Jch werde immer annehmen, daß die europäische Gesellschaft einem Körper gleicht, für dessen Zustand die Sydenhame und Boerhave der Staatskunst noch Mittel und sogar spezifische übrig haben. Jch glaube, daß den Völkern die Revolution einen so großen Kampf gegen ihr Herz und Gewissen kostet, daß sie Jeden anbeten würden, der den Kelch an ihnen vorübergehen läßt. Jch glaub’ auch, daß dieß Gefühl so durchgreifend in Europa die Oberhand hat, daß aller Streit in der Politik mir nur daher zu kommen scheint, ob die Staatskunst positive oder negative Gesichtspunkte haben soll; ob es besser ist zu konstituiren oder nur vorzubeugen, mit einem Worte, ob man die Thatsache der Revolution anerkennt oder nicht. Niemand will sie. Die Frage ist nur: Wie vermeidet man sie? Hier divergiren die Meinungen. Die Einen wollen sie ignoriren; die Andern wollen ihr zuvorkommen. Jene wollen der Revolution die Macht nehmen, daß sie nicht ausbrechen kann; diese wollen ihr den Grund, das Recht der Berufung nehmen, so daß sie nicht ausbrechen darf.

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[119/0147] Wir treiben jetzt alle wieder unser solides Geschäft und wiegen unsre Gewürze – dennoch ist es mir oft, als vernähm’ ich unterirdisch ein dumpfes Gähren und Brausen, ein Sieden und Rollen. Jch male mir eine Zukunft mit den schreiendsten Farben aus und muß an mein überwältigtes, zu ersticken drohendes Herz greifen und mir zuflüstern: Wär’s möglich? Jch gehöre weder zu den Fatalisten noch zu den Radikalen. Jch werde immer annehmen, daß die europäische Gesellschaft einem Körper gleicht, für dessen Zustand die Sydenhame und Boerhave der Staatskunst noch Mittel und sogar spezifische übrig haben. Jch glaube, daß den Völkern die Revolution einen so großen Kampf gegen ihr Herz und Gewissen kostet, daß sie Jeden anbeten würden, der den Kelch an ihnen vorübergehen läßt. Jch glaub’ auch, daß dieß Gefühl so durchgreifend in Europa die Oberhand hat, daß aller Streit in der Politik mir nur daher zu kommen scheint, ob die Staatskunst positive oder negative Gesichtspunkte haben soll; ob es besser ist zu konstituiren oder nur vorzubeugen, mit einem Worte, ob man die Thatsache der Revolution anerkennt oder nicht. Niemand will sie. Die Frage ist nur: Wie vermeidet man sie? Hier divergiren die Meinungen. Die Einen wollen sie ignoriren; die Andern wollen ihr zuvorkommen. Jene wollen der Revolution die Macht nehmen, daß sie nicht ausbrechen kann; diese wollen ihr den Grund, das Recht der Berufung nehmen, so daß sie nicht ausbrechen darf.

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Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-09-13T12:39:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/147>, abgerufen am 18.04.2024.