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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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dem Entfernten waren sie meist geneigter, als dem Nahen. Wenn sie in Leidenschaft kamen, so mußte sie der Nächste oft entgelten. Hastig in dem, was sie für Rechtens hielten, rechteten sie gegen einander. Oft vom Nächsten getäuscht, riefen sie den Richter auch wohl dann an, wenn ihnen Niemand zu nahe getreten war. Jm Handel und Gewerbe kannten sie nur ihr eigenes Jnteresse. Sie durften auch nicht anders, wenn sie in der Lage waren, erst erwerben zu müssen. Gegen Weib und Kind zärtlich, wählten sie öfter nach Neigung als Jnteresse, und erzogen die Jhrigen nicht für einen Stand, sondern für alle. Die Jugend kam fast reifer auf die Welt, als sonst. War es angeboren oder die größere Sorgfalt der Eltern, sie machten schnelle Fortschritte und überflügelten die Alten, ohne so voreilig zu seyn, als diese es in der Jugend waren. Die Frauen liebten das Haus mehr, als die Welt. Jn der Sitte waren sie züchtiger als die Großmütter, wenn sie auch den Geist und die Schönheit derselben nicht immer erreichten. Der Vornehme wurde durch das Daseyn der Armuth weit weniger gehoben, als in Verlegenheit gesezt. Wenn er dem Einzelnen nicht half, so glaubt' er der Masse helfen zu müssen. Die Wohlthätigkeit war schon keine persönliche Tugend mehr, sondern Bürgerpflicht. Jm Umgang thauten die Herzen auf, wenn auch langsam. Jeder freute sich, wenn es ihm gelang, durch die Verhältnisse bis zur Natur hindurch

dem Entfernten waren sie meist geneigter, als dem Nahen. Wenn sie in Leidenschaft kamen, so mußte sie der Nächste oft entgelten. Hastig in dem, was sie für Rechtens hielten, rechteten sie gegen einander. Oft vom Nächsten getäuscht, riefen sie den Richter auch wohl dann an, wenn ihnen Niemand zu nahe getreten war. Jm Handel und Gewerbe kannten sie nur ihr eigenes Jnteresse. Sie durften auch nicht anders, wenn sie in der Lage waren, erst erwerben zu müssen. Gegen Weib und Kind zärtlich, wählten sie öfter nach Neigung als Jnteresse, und erzogen die Jhrigen nicht für einen Stand, sondern für alle. Die Jugend kam fast reifer auf die Welt, als sonst. War es angeboren oder die größere Sorgfalt der Eltern, sie machten schnelle Fortschritte und überflügelten die Alten, ohne so voreilig zu seyn, als diese es in der Jugend waren. Die Frauen liebten das Haus mehr, als die Welt. Jn der Sitte waren sie züchtiger als die Großmütter, wenn sie auch den Geist und die Schönheit derselben nicht immer erreichten. Der Vornehme wurde durch das Daseyn der Armuth weit weniger gehoben, als in Verlegenheit gesezt. Wenn er dem Einzelnen nicht half, so glaubt’ er der Masse helfen zu müssen. Die Wohlthätigkeit war schon keine persönliche Tugend mehr, sondern Bürgerpflicht. Jm Umgang thauten die Herzen auf, wenn auch langsam. Jeder freute sich, wenn es ihm gelang, durch die Verhältnisse bis zur Natur hindurch

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dem Entfernten waren sie meist geneigter, als dem Nahen. Wenn sie in Leidenschaft kamen, so mußte sie der Nächste oft entgelten. Hastig in dem, was sie für Rechtens hielten, rechteten sie gegen einander. Oft vom Nächsten getäuscht, riefen sie den Richter auch wohl dann an, wenn ihnen Niemand zu nahe getreten war. Jm Handel und Gewerbe kannten sie nur ihr eigenes Jnteresse. Sie durften auch nicht anders, wenn sie in der Lage waren, erst erwerben zu müssen. Gegen Weib und Kind zärtlich, wählten sie öfter nach Neigung als Jnteresse, und erzogen die Jhrigen nicht für <hi rendition="#g">einen</hi> Stand, sondern für alle. Die Jugend kam fast reifer auf die Welt, als sonst. War es angeboren oder die größere Sorgfalt der Eltern, sie machten schnelle Fortschritte und überflügelten die Alten, ohne so voreilig zu seyn, als diese es in der Jugend waren. Die Frauen liebten das Haus mehr, als die Welt. Jn der Sitte waren sie züchtiger als die Großmütter, wenn sie auch den Geist und die Schönheit derselben nicht immer erreichten. Der Vornehme wurde durch das Daseyn der Armuth weit weniger gehoben, als in Verlegenheit gesezt. Wenn er dem Einzelnen nicht half, so glaubt&#x2019; er der Masse helfen zu müssen. Die Wohlthätigkeit war schon keine persönliche Tugend mehr, sondern Bürgerpflicht. Jm Umgang thauten die Herzen auf, wenn auch langsam. Jeder freute sich, wenn es ihm gelang, durch die Verhältnisse bis zur Natur hindurch
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[382/0384] dem Entfernten waren sie meist geneigter, als dem Nahen. Wenn sie in Leidenschaft kamen, so mußte sie der Nächste oft entgelten. Hastig in dem, was sie für Rechtens hielten, rechteten sie gegen einander. Oft vom Nächsten getäuscht, riefen sie den Richter auch wohl dann an, wenn ihnen Niemand zu nahe getreten war. Jm Handel und Gewerbe kannten sie nur ihr eigenes Jnteresse. Sie durften auch nicht anders, wenn sie in der Lage waren, erst erwerben zu müssen. Gegen Weib und Kind zärtlich, wählten sie öfter nach Neigung als Jnteresse, und erzogen die Jhrigen nicht für einen Stand, sondern für alle. Die Jugend kam fast reifer auf die Welt, als sonst. War es angeboren oder die größere Sorgfalt der Eltern, sie machten schnelle Fortschritte und überflügelten die Alten, ohne so voreilig zu seyn, als diese es in der Jugend waren. Die Frauen liebten das Haus mehr, als die Welt. Jn der Sitte waren sie züchtiger als die Großmütter, wenn sie auch den Geist und die Schönheit derselben nicht immer erreichten. Der Vornehme wurde durch das Daseyn der Armuth weit weniger gehoben, als in Verlegenheit gesezt. Wenn er dem Einzelnen nicht half, so glaubt’ er der Masse helfen zu müssen. Die Wohlthätigkeit war schon keine persönliche Tugend mehr, sondern Bürgerpflicht. Jm Umgang thauten die Herzen auf, wenn auch langsam. Jeder freute sich, wenn es ihm gelang, durch die Verhältnisse bis zur Natur hindurch

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/384>, abgerufen am 19.04.2024.