Die allgemeine Begriffsverwirrung, welche in den meisten biologischen Disciplinen herrscht, und die merkwürdige Unklarkeit, in welcher sich die meisten Biologen über Inhalt und Umfang der Wissenschaftszweige be- finden, in denen sie speciell arbeiten, ist von uns bereits im zweiten und dritten Capitel eingehend gerügt worden. Um sich von der wirklichen Be- gründung dieser schweren Vorwürfe zu überzeugen, ersuchen wir den Le- ser, ein paar Dutzend der gebräuchlichsten zoologischen und botanischen Hand- und Lehr-Bücher neben einander zu legen und ihre einleitenden er- sten Capitel zu vergleichen. Man wird erstaunen über die unglaub- lichen Widersprüche und die ausserordentliche Divergenz der Ansichten bei den verschiedenen Autoren, welche sich nicht etwa auf untergeordnete Ge- genstände beziehen, sondern auf die wichtigsten Fundamente der Wissen- schaft, auf die Bestimmung des Inhalts und Umfangs der einzelnen Natur- wissenschaften, welche die einzelnen Zoologen und Botaniker als die Be- standtheile der "eigentlichen" (neuerdings "wissenschaftlichen") Zoologie und Botanik zu bezeichnen belieben. Wenn wir schon oben gezeigt haben, dass die Begriffe der Morphologie und Physiologie, der Anatomie und Systematik, der Organologie und Histologie u. s. w. von den verschiedenen Biologen in einem ganz verschiedenen und willkührlichen Sinne gebraucht werden, so gilt dasselbe in noch höherem Maasse von den Begriffen der Zoologie und Botanik. Es ist daher keineswegs überflüssig, wenn wir hier nochmals ausdrücklich darauf hinweisen, dass jeder biologische Wissen- schaftszweig, welcher eine einzelne Organismen-Gruppe behandelt, aus allen denselben Disciplinen zusammengesetzt ist, welche wir oben (p. 21) als integrirende Bestandtheile der gesammten Biologie hingestellt haben.
Wenn wir also als die drei Hauptgruppen oder Reiche der Organis- men die Thiere, Protisten und Pflanzen betrachten, und wenn wir unter Zoologie, Protistik und Botanik die gesammte Wissenschaft dieser drei Gruppen verstehen, so muss jede dieser drei Wissenschaften, gleich der gesammten Biologie, zunächst in die drei coordinirten Disciplinen der Morphologie, Chemie und Physiologie zerfallen, oder, wenn wir die statische Chemie mit der ersteren, die dynamische Chemie mit der letzteren vereini- gen, in die beiden Hauptfächer der Morphonomie (Morphologie im weiteren Sinne) und der Phoronomie (Physiologie im weiteren Sinne). Die Morpho- logie spaltet sich wiederum in die beiden Hauptzweige der Anatomie und Entwickelungsgeschichte (Morphogenie). Die Physiologie theilen wir eben- falls in zwei Disciplinen: I. Die Physiologie der Conservation oder Selbst- erhaltung (a. Ernährung, b. Fortpflanzung), II. die Physiologie der Rela- tionen oder Beziehungen (a. Physiologie der Beziehungen der einzelnen Theile des Organismus zu einander (beim Thiere Physiologie der Nerven und Muskeln); b. Oecologie und Geographie des Organismus oder Physiologie der Beziehungen des Organismus zur Aussenwelt). Um die gegenseitigen Beziehungen dieser einzelnen Disciplinen klar zu übersehen, fügen wir als Beispiel die folgende Tabelle über die einzelnen Zweige der Zoologie bei, welche entsprechend auch für die Protistik und Botanik Geltung hat.
XII. Zoologie, Protistik, Botanik.
Die allgemeine Begriffsverwirrung, welche in den meisten biologischen Disciplinen herrscht, und die merkwürdige Unklarkeit, in welcher sich die meisten Biologen über Inhalt und Umfang der Wissenschaftszweige be- finden, in denen sie speciell arbeiten, ist von uns bereits im zweiten und dritten Capitel eingehend gerügt worden. Um sich von der wirklichen Be- gründung dieser schweren Vorwürfe zu überzeugen, ersuchen wir den Le- ser, ein paar Dutzend der gebräuchlichsten zoologischen und botanischen Hand- und Lehr-Bücher neben einander zu legen und ihre einleitenden er- sten Capitel zu vergleichen. Man wird erstaunen über die unglaub- lichen Widersprüche und die ausserordentliche Divergenz der Ansichten bei den verschiedenen Autoren, welche sich nicht etwa auf untergeordnete Ge- genstände beziehen, sondern auf die wichtigsten Fundamente der Wissen- schaft, auf die Bestimmung des Inhalts und Umfangs der einzelnen Natur- wissenschaften, welche die einzelnen Zoologen und Botaniker als die Be- standtheile der „eigentlichen“ (neuerdings „wissenschaftlichen“) Zoologie und Botanik zu bezeichnen belieben. Wenn wir schon oben gezeigt haben, dass die Begriffe der Morphologie und Physiologie, der Anatomie und Systematik, der Organologie und Histologie u. s. w. von den verschiedenen Biologen in einem ganz verschiedenen und willkührlichen Sinne gebraucht werden, so gilt dasselbe in noch höherem Maasse von den Begriffen der Zoologie und Botanik. Es ist daher keineswegs überflüssig, wenn wir hier nochmals ausdrücklich darauf hinweisen, dass jeder biologische Wissen- schaftszweig, welcher eine einzelne Organismen-Gruppe behandelt, aus allen denselben Disciplinen zusammengesetzt ist, welche wir oben (p. 21) als integrirende Bestandtheile der gesammten Biologie hingestellt haben.
Wenn wir also als die drei Hauptgruppen oder Reiche der Organis- men die Thiere, Protisten und Pflanzen betrachten, und wenn wir unter Zoologie, Protistik und Botanik die gesammte Wissenschaft dieser drei Gruppen verstehen, so muss jede dieser drei Wissenschaften, gleich der gesammten Biologie, zunächst in die drei coordinirten Disciplinen der Morphologie, Chemie und Physiologie zerfallen, oder, wenn wir die statische Chemie mit der ersteren, die dynamische Chemie mit der letzteren vereini- gen, in die beiden Hauptfächer der Morphonomie (Morphologie im weiteren Sinne) und der Phoronomie (Physiologie im weiteren Sinne). Die Morpho- logie spaltet sich wiederum in die beiden Hauptzweige der Anatomie und Entwickelungsgeschichte (Morphogenie). Die Physiologie theilen wir eben- falls in zwei Disciplinen: I. Die Physiologie der Conservation oder Selbst- erhaltung (a. Ernährung, b. Fortpflanzung), II. die Physiologie der Rela- tionen oder Beziehungen (a. Physiologie der Beziehungen der einzelnen Theile des Organismus zu einander (beim Thiere Physiologie der Nerven und Muskeln); b. Oecologie und Geographie des Organismus oder Physiologie der Beziehungen des Organismus zur Aussenwelt). Um die gegenseitigen Beziehungen dieser einzelnen Disciplinen klar zu übersehen, fügen wir als Beispiel die folgende Tabelle über die einzelnen Zweige der Zoologie bei, welche entsprechend auch für die Protistik und Botanik Geltung hat.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0276"n="237"/><fwplace="top"type="header">XII. Zoologie, Protistik, Botanik.</fw><lb/><p>Die allgemeine Begriffsverwirrung, welche in den meisten biologischen<lb/>
Disciplinen herrscht, und die merkwürdige Unklarkeit, in welcher sich die<lb/>
meisten Biologen über Inhalt und Umfang der Wissenschaftszweige be-<lb/>
finden, in denen sie speciell arbeiten, ist von uns bereits im zweiten und<lb/>
dritten Capitel eingehend gerügt worden. Um sich von der wirklichen Be-<lb/>
gründung dieser schweren Vorwürfe zu überzeugen, ersuchen wir den Le-<lb/>
ser, ein paar Dutzend der gebräuchlichsten zoologischen und botanischen<lb/>
Hand- und Lehr-Bücher neben einander zu legen und ihre einleitenden er-<lb/>
sten Capitel zu vergleichen. Man wird erstaunen über die unglaub-<lb/>
lichen Widersprüche und die ausserordentliche Divergenz der Ansichten bei<lb/>
den verschiedenen Autoren, welche sich nicht etwa auf untergeordnete Ge-<lb/>
genstände beziehen, sondern auf die wichtigsten Fundamente der Wissen-<lb/>
schaft, auf die Bestimmung des Inhalts und Umfangs der einzelnen Natur-<lb/>
wissenschaften, welche die einzelnen Zoologen und Botaniker als die Be-<lb/>
standtheile der „eigentlichen“ (neuerdings „wissenschaftlichen“) Zoologie<lb/>
und Botanik zu bezeichnen belieben. Wenn wir schon oben gezeigt haben,<lb/>
dass die Begriffe der Morphologie und Physiologie, der Anatomie und<lb/>
Systematik, der Organologie und Histologie u. s. w. von den verschiedenen<lb/>
Biologen in einem ganz verschiedenen und willkührlichen Sinne gebraucht<lb/>
werden, so gilt dasselbe in noch höherem Maasse von den Begriffen der<lb/>
Zoologie und Botanik. Es ist daher keineswegs überflüssig, wenn wir hier<lb/>
nochmals ausdrücklich darauf hinweisen, dass jeder biologische Wissen-<lb/>
schaftszweig, welcher eine einzelne Organismen-Gruppe behandelt, aus<lb/>
allen denselben Disciplinen zusammengesetzt ist, welche wir oben (p. 21)<lb/>
als integrirende Bestandtheile der gesammten Biologie hingestellt haben.</p><lb/><p>Wenn wir also als die drei Hauptgruppen oder Reiche der Organis-<lb/>
men die Thiere, Protisten und Pflanzen betrachten, und wenn wir unter<lb/>
Zoologie, Protistik und Botanik die gesammte Wissenschaft dieser drei<lb/>
Gruppen verstehen, so muss jede dieser drei Wissenschaften, gleich der<lb/>
gesammten Biologie, zunächst in die drei coordinirten Disciplinen der<lb/>
Morphologie, Chemie und Physiologie zerfallen, oder, wenn wir die statische<lb/>
Chemie mit der ersteren, die dynamische Chemie mit der letzteren vereini-<lb/>
gen, in die beiden Hauptfächer der Morphonomie (Morphologie im weiteren<lb/>
Sinne) und der Phoronomie (Physiologie im weiteren Sinne). Die Morpho-<lb/>
logie spaltet sich wiederum in die beiden Hauptzweige der Anatomie und<lb/>
Entwickelungsgeschichte (Morphogenie). Die Physiologie theilen wir eben-<lb/>
falls in zwei Disciplinen: I. Die Physiologie der Conservation oder Selbst-<lb/>
erhaltung (a. Ernährung, b. Fortpflanzung), II. die Physiologie der Rela-<lb/>
tionen oder Beziehungen (a. Physiologie der Beziehungen der einzelnen Theile<lb/>
des Organismus zu einander (beim Thiere Physiologie der Nerven und<lb/>
Muskeln); b. Oecologie und Geographie des Organismus oder Physiologie<lb/>
der Beziehungen des Organismus zur Aussenwelt). Um die gegenseitigen<lb/>
Beziehungen dieser einzelnen Disciplinen klar zu übersehen, fügen wir als<lb/>
Beispiel die folgende Tabelle über die einzelnen Zweige der Zoologie bei,<lb/>
welche entsprechend auch für die Protistik und Botanik Geltung hat.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[237/0276]
XII. Zoologie, Protistik, Botanik.
Die allgemeine Begriffsverwirrung, welche in den meisten biologischen
Disciplinen herrscht, und die merkwürdige Unklarkeit, in welcher sich die
meisten Biologen über Inhalt und Umfang der Wissenschaftszweige be-
finden, in denen sie speciell arbeiten, ist von uns bereits im zweiten und
dritten Capitel eingehend gerügt worden. Um sich von der wirklichen Be-
gründung dieser schweren Vorwürfe zu überzeugen, ersuchen wir den Le-
ser, ein paar Dutzend der gebräuchlichsten zoologischen und botanischen
Hand- und Lehr-Bücher neben einander zu legen und ihre einleitenden er-
sten Capitel zu vergleichen. Man wird erstaunen über die unglaub-
lichen Widersprüche und die ausserordentliche Divergenz der Ansichten bei
den verschiedenen Autoren, welche sich nicht etwa auf untergeordnete Ge-
genstände beziehen, sondern auf die wichtigsten Fundamente der Wissen-
schaft, auf die Bestimmung des Inhalts und Umfangs der einzelnen Natur-
wissenschaften, welche die einzelnen Zoologen und Botaniker als die Be-
standtheile der „eigentlichen“ (neuerdings „wissenschaftlichen“) Zoologie
und Botanik zu bezeichnen belieben. Wenn wir schon oben gezeigt haben,
dass die Begriffe der Morphologie und Physiologie, der Anatomie und
Systematik, der Organologie und Histologie u. s. w. von den verschiedenen
Biologen in einem ganz verschiedenen und willkührlichen Sinne gebraucht
werden, so gilt dasselbe in noch höherem Maasse von den Begriffen der
Zoologie und Botanik. Es ist daher keineswegs überflüssig, wenn wir hier
nochmals ausdrücklich darauf hinweisen, dass jeder biologische Wissen-
schaftszweig, welcher eine einzelne Organismen-Gruppe behandelt, aus
allen denselben Disciplinen zusammengesetzt ist, welche wir oben (p. 21)
als integrirende Bestandtheile der gesammten Biologie hingestellt haben.
Wenn wir also als die drei Hauptgruppen oder Reiche der Organis-
men die Thiere, Protisten und Pflanzen betrachten, und wenn wir unter
Zoologie, Protistik und Botanik die gesammte Wissenschaft dieser drei
Gruppen verstehen, so muss jede dieser drei Wissenschaften, gleich der
gesammten Biologie, zunächst in die drei coordinirten Disciplinen der
Morphologie, Chemie und Physiologie zerfallen, oder, wenn wir die statische
Chemie mit der ersteren, die dynamische Chemie mit der letzteren vereini-
gen, in die beiden Hauptfächer der Morphonomie (Morphologie im weiteren
Sinne) und der Phoronomie (Physiologie im weiteren Sinne). Die Morpho-
logie spaltet sich wiederum in die beiden Hauptzweige der Anatomie und
Entwickelungsgeschichte (Morphogenie). Die Physiologie theilen wir eben-
falls in zwei Disciplinen: I. Die Physiologie der Conservation oder Selbst-
erhaltung (a. Ernährung, b. Fortpflanzung), II. die Physiologie der Rela-
tionen oder Beziehungen (a. Physiologie der Beziehungen der einzelnen Theile
des Organismus zu einander (beim Thiere Physiologie der Nerven und
Muskeln); b. Oecologie und Geographie des Organismus oder Physiologie
der Beziehungen des Organismus zur Aussenwelt). Um die gegenseitigen
Beziehungen dieser einzelnen Disciplinen klar zu übersehen, fügen wir als
Beispiel die folgende Tabelle über die einzelnen Zweige der Zoologie bei,
welche entsprechend auch für die Protistik und Botanik Geltung hat.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/276>, abgerufen am 07.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.