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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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II. Begriff des organischen Individuums im Allgemeinen.
welche der thierischen Person aequivalent ist, haben die meisten Bo-
taniker bei den höheren Pflanzen den Spross oder die Knospe aner-
kannt. Da jedoch neben dieser Anschauung noch eine Anzahl von
anderen sehr verschiedenartigen Auffassungen der thierischen und
pflanzlichen Individualität sich Geltung verschafft haben, so können
wir eine allgemeine Uebersicht derselben hier nicht umgehen; und
zwar wollen wir zunächst die verschiedenen Ansichten über das pflanz-
liche, dann diejenigen über das thierische Individuum neben einander
stellen. Es wird sich durch eine vergleichende Betrachtung dieser
sich widersprechenden Auffassungen schon die Ansicht vorbereiten, zu
der uns die eigene eingehende Untersuchung mit Nothwendigkeit hin-
führt, dass wir nämlich auf die Aufstellung von absoluten organischen
Individuen überhaupt verzichten müssen, und nur dadurch zum Ziele
gelangen, dass wir verschiedene Ordnungen oder Kategorieen
von relativen Individuen
in den organischen Naturkörpern unter-
scheiden.

III. Verschiedene Auffassungen des pflanzlichen Individuums.

Als pflanzliche Individuen in absolutem Sinne werden von der
unmittelbaren und nicht in die Zusammensetzung der Pflanzenformen
eindringenden Naturanschauung der Laien diejenigen für die ober-
flächliche Betrachtung am meisten physiologisch und morphologisch
abgeschlossenen Einheiten bezeichnet, welche die Botanik mit einem
schärferen Ausdruck als Stock oder zusammengesetzte Pflanze (Cor-
mus)
bezeichnet. Der einzelne Baum, der einzelne Strauch, das ein-
zelne Kraut mit seinem Stengel und seiner Wurzel, seinen Aesten und
Zweigen, seinen Blättern und Blüthen, scheint auf den ersten Blick
dasjenige zu sein, was am nächsten der individuellen Persönlichkeit
der höheren Thiere als geschlossene Einheit sich gegenüberstellt.
Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch bald, dass weder physiologisch
noch morphologisch diese Einheit so absolut und selbstständig ist, als
sie zunächst erscheint. Benachbarte, scheinbar selbstständige Stöcke
hängen unterirdisch durch ihre Wurzelausläufer zusammen, indem ent-
weder, wie z. B. bei den Tannen eines Tannenwaldes, die Wurzel-
fasern vieler ursprünglich selbstständiger Stöcke in continuirliche Com-
munication treten und zu einem Netze verwachsen; oder indem eine
unterirdisch kriechende Axe nach oben viele Knospen absendet, welche
über der Erde als scheinbar selbstständige Stöcke auftreten. Aber
auch von den oberirdischen vollkommen isolirten Stöcken können die
verschiedensten Arten der Sprosse (Aeste, Zweige, Brutknospen etc.)
natürlich oder künstlich abgelöst werden und leben als selbstständige
Individuen weiter, indem sie sich alsbald wieder verästeln und neue
selbstständige Stöcke bilden.

II. Begriff des organischen Individuums im Allgemeinen.
welche der thierischen Person aequivalent ist, haben die meisten Bo-
taniker bei den höheren Pflanzen den Spross oder die Knospe aner-
kannt. Da jedoch neben dieser Anschauung noch eine Anzahl von
anderen sehr verschiedenartigen Auffassungen der thierischen und
pflanzlichen Individualität sich Geltung verschafft haben, so können
wir eine allgemeine Uebersicht derselben hier nicht umgehen; und
zwar wollen wir zunächst die verschiedenen Ansichten über das pflanz-
liche, dann diejenigen über das thierische Individuum neben einander
stellen. Es wird sich durch eine vergleichende Betrachtung dieser
sich widersprechenden Auffassungen schon die Ansicht vorbereiten, zu
der uns die eigene eingehende Untersuchung mit Nothwendigkeit hin-
führt, dass wir nämlich auf die Aufstellung von absoluten organischen
Individuen überhaupt verzichten müssen, und nur dadurch zum Ziele
gelangen, dass wir verschiedene Ordnungen oder Kategorieen
von relativen Individuen
in den organischen Naturkörpern unter-
scheiden.

III. Verschiedene Auffassungen des pflanzlichen Individuums.

Als pflanzliche Individuen in absolutem Sinne werden von der
unmittelbaren und nicht in die Zusammensetzung der Pflanzenformen
eindringenden Naturanschauung der Laien diejenigen für die ober-
flächliche Betrachtung am meisten physiologisch und morphologisch
abgeschlossenen Einheiten bezeichnet, welche die Botanik mit einem
schärferen Ausdruck als Stock oder zusammengesetzte Pflanze (Cor-
mus)
bezeichnet. Der einzelne Baum, der einzelne Strauch, das ein-
zelne Kraut mit seinem Stengel und seiner Wurzel, seinen Aesten und
Zweigen, seinen Blättern und Blüthen, scheint auf den ersten Blick
dasjenige zu sein, was am nächsten der individuellen Persönlichkeit
der höheren Thiere als geschlossene Einheit sich gegenüberstellt.
Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch bald, dass weder physiologisch
noch morphologisch diese Einheit so absolut und selbstständig ist, als
sie zunächst erscheint. Benachbarte, scheinbar selbstständige Stöcke
hängen unterirdisch durch ihre Wurzelausläufer zusammen, indem ent-
weder, wie z. B. bei den Tannen eines Tannenwaldes, die Wurzel-
fasern vieler ursprünglich selbstständiger Stöcke in continuirliche Com-
munication treten und zu einem Netze verwachsen; oder indem eine
unterirdisch kriechende Axe nach oben viele Knospen absendet, welche
über der Erde als scheinbar selbstständige Stöcke auftreten. Aber
auch von den oberirdischen vollkommen isolirten Stöcken können die
verschiedensten Arten der Sprosse (Aeste, Zweige, Brutknospen etc.)
natürlich oder künstlich abgelöst werden und leben als selbstständige
Individuen weiter, indem sie sich alsbald wieder verästeln und neue
selbstständige Stöcke bilden.

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[245/0284] II. Begriff des organischen Individuums im Allgemeinen. welche der thierischen Person aequivalent ist, haben die meisten Bo- taniker bei den höheren Pflanzen den Spross oder die Knospe aner- kannt. Da jedoch neben dieser Anschauung noch eine Anzahl von anderen sehr verschiedenartigen Auffassungen der thierischen und pflanzlichen Individualität sich Geltung verschafft haben, so können wir eine allgemeine Uebersicht derselben hier nicht umgehen; und zwar wollen wir zunächst die verschiedenen Ansichten über das pflanz- liche, dann diejenigen über das thierische Individuum neben einander stellen. Es wird sich durch eine vergleichende Betrachtung dieser sich widersprechenden Auffassungen schon die Ansicht vorbereiten, zu der uns die eigene eingehende Untersuchung mit Nothwendigkeit hin- führt, dass wir nämlich auf die Aufstellung von absoluten organischen Individuen überhaupt verzichten müssen, und nur dadurch zum Ziele gelangen, dass wir verschiedene Ordnungen oder Kategorieen von relativen Individuen in den organischen Naturkörpern unter- scheiden. III. Verschiedene Auffassungen des pflanzlichen Individuums. Als pflanzliche Individuen in absolutem Sinne werden von der unmittelbaren und nicht in die Zusammensetzung der Pflanzenformen eindringenden Naturanschauung der Laien diejenigen für die ober- flächliche Betrachtung am meisten physiologisch und morphologisch abgeschlossenen Einheiten bezeichnet, welche die Botanik mit einem schärferen Ausdruck als Stock oder zusammengesetzte Pflanze (Cor- mus) bezeichnet. Der einzelne Baum, der einzelne Strauch, das ein- zelne Kraut mit seinem Stengel und seiner Wurzel, seinen Aesten und Zweigen, seinen Blättern und Blüthen, scheint auf den ersten Blick dasjenige zu sein, was am nächsten der individuellen Persönlichkeit der höheren Thiere als geschlossene Einheit sich gegenüberstellt. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch bald, dass weder physiologisch noch morphologisch diese Einheit so absolut und selbstständig ist, als sie zunächst erscheint. Benachbarte, scheinbar selbstständige Stöcke hängen unterirdisch durch ihre Wurzelausläufer zusammen, indem ent- weder, wie z. B. bei den Tannen eines Tannenwaldes, die Wurzel- fasern vieler ursprünglich selbstständiger Stöcke in continuirliche Com- munication treten und zu einem Netze verwachsen; oder indem eine unterirdisch kriechende Axe nach oben viele Knospen absendet, welche über der Erde als scheinbar selbstständige Stöcke auftreten. Aber auch von den oberirdischen vollkommen isolirten Stöcken können die verschiedensten Arten der Sprosse (Aeste, Zweige, Brutknospen etc.) natürlich oder künstlich abgelöst werden und leben als selbstständige Individuen weiter, indem sie sich alsbald wieder verästeln und neue selbstständige Stöcke bilden.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/284>, abgerufen am 07.10.2024.