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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Vermischung der Seelen. VIII.
Individuum übertragen. Diesen ontogenetischen Thatsachen steht
die dualistische und mystische Psychologie der noch heute herrschen-
den Schulen rathlos gegenüber, während sie sich durch unsere
monistische Psychogenie in einfachster Weise erklären.

Seelenmischung (psychische Amphigonie). Die physio-
logische Thatsache, auf welche es für die richtige Beurtheilung
der individuellen Psychogenie vor Allem ankommt, ist die Kon-
tinuität der Psyche
in der Generations-Reihe. Wenn im
Konceptions-Momente auch thatsächlich ein neues Individuum
entsteht, so ist dasselbe doch weder hinsichtlich seiner geistigen
noch leiblichen Qualität eine unabhängige Neubildung, sondern
lediglich das Produkt aus der Verschmelzung der beiden elter-
lichen Faktoren, der mütterlichen Eizelle und der väterlichen
Spermazelle. Die Zellseelen dieser beiden Geschlechtszellen ver-
schmelzen im Befruchtungs-Akte ebenso vollständig zur Bildung
einer neuen Zellseele, wie die beiden Zellkerne, welche die
materiellen Träger dieser psychischen Spannkräfte sind, zu einem
neuen Zellkern sich verbinden. Da wir nun sehen, daß die
Individuen einer und derselben Art -- ja selbst die Geschwister,
die von einem gemeinsamen Eltern-Paare abstammen -- stets
gewisse, wenn auch geringfügige Unterschiede zeigen, so müssen
wir annehmen, daß solche auch schon in der chemischen Plasma-
Konstitution der kopulirenden Keimzellen selbst vorhanden sind
(Gesetz der individuellen Variation, Natürl. Schöpfgsg. S. 215).

Aus diesen Thatsachen allein schon läßt sich die unendliche
Mannigfaltigkeit der individuellen Seelen- und Form-Erschei-
nungen in der organischen Natur begreifen. In extremer, aber
einseitiger Konsequenz ergiebt sich daraus die Auffassung von
Weismann, welcher die Amphimixis, die Mischung des
Keimplasma bei der geschlechtlichen Zeugung, sogar als die all-
gemeine und ausschließliche Ursache der individuellen Variabilität
betrachtet. Diese exklusive Auffassung, die mit seiner Theorie

Vermiſchung der Seelen. VIII.
Individuum übertragen. Dieſen ontogenetiſchen Thatſachen ſteht
die dualiſtiſche und myſtiſche Pſychologie der noch heute herrſchen-
den Schulen rathlos gegenüber, während ſie ſich durch unſere
moniſtiſche Pſychogenie in einfachſter Weiſe erklären.

Seelenmiſchung (pſychiſche Amphigonie). Die phyſio-
logiſche Thatſache, auf welche es für die richtige Beurtheilung
der individuellen Pſychogenie vor Allem ankommt, iſt die Kon-
tinuität der Pſyche
in der Generations-Reihe. Wenn im
Konceptions-Momente auch thatſächlich ein neues Individuum
entſteht, ſo iſt dasſelbe doch weder hinſichtlich ſeiner geiſtigen
noch leiblichen Qualität eine unabhängige Neubildung, ſondern
lediglich das Produkt aus der Verſchmelzung der beiden elter-
lichen Faktoren, der mütterlichen Eizelle und der väterlichen
Spermazelle. Die Zellſeelen dieſer beiden Geſchlechtszellen ver-
ſchmelzen im Befruchtungs-Akte ebenſo vollſtändig zur Bildung
einer neuen Zellſeele, wie die beiden Zellkerne, welche die
materiellen Träger dieſer pſychiſchen Spannkräfte ſind, zu einem
neuen Zellkern ſich verbinden. Da wir nun ſehen, daß die
Individuen einer und derſelben Art — ja ſelbſt die Geſchwiſter,
die von einem gemeinſamen Eltern-Paare abſtammen — ſtets
gewiſſe, wenn auch geringfügige Unterſchiede zeigen, ſo müſſen
wir annehmen, daß ſolche auch ſchon in der chemiſchen Plasma-
Konſtitution der kopulirenden Keimzellen ſelbſt vorhanden ſind
(Geſetz der individuellen Variation, Natürl. Schöpfgsg. S. 215).

Aus dieſen Thatſachen allein ſchon läßt ſich die unendliche
Mannigfaltigkeit der individuellen Seelen- und Form-Erſchei-
nungen in der organiſchen Natur begreifen. In extremer, aber
einſeitiger Konſequenz ergiebt ſich daraus die Auffaſſung von
Weismann, welcher die Amphimixis, die Miſchung des
Keimplasma bei der geſchlechtlichen Zeugung, ſogar als die all-
gemeine und ausſchließliche Urſache der individuellen Variabilität
betrachtet. Dieſe exkluſive Auffaſſung, die mit ſeiner Theorie

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[164/0180] Vermiſchung der Seelen. VIII. Individuum übertragen. Dieſen ontogenetiſchen Thatſachen ſteht die dualiſtiſche und myſtiſche Pſychologie der noch heute herrſchen- den Schulen rathlos gegenüber, während ſie ſich durch unſere moniſtiſche Pſychogenie in einfachſter Weiſe erklären. Seelenmiſchung (pſychiſche Amphigonie). Die phyſio- logiſche Thatſache, auf welche es für die richtige Beurtheilung der individuellen Pſychogenie vor Allem ankommt, iſt die Kon- tinuität der Pſyche in der Generations-Reihe. Wenn im Konceptions-Momente auch thatſächlich ein neues Individuum entſteht, ſo iſt dasſelbe doch weder hinſichtlich ſeiner geiſtigen noch leiblichen Qualität eine unabhängige Neubildung, ſondern lediglich das Produkt aus der Verſchmelzung der beiden elter- lichen Faktoren, der mütterlichen Eizelle und der väterlichen Spermazelle. Die Zellſeelen dieſer beiden Geſchlechtszellen ver- ſchmelzen im Befruchtungs-Akte ebenſo vollſtändig zur Bildung einer neuen Zellſeele, wie die beiden Zellkerne, welche die materiellen Träger dieſer pſychiſchen Spannkräfte ſind, zu einem neuen Zellkern ſich verbinden. Da wir nun ſehen, daß die Individuen einer und derſelben Art — ja ſelbſt die Geſchwiſter, die von einem gemeinſamen Eltern-Paare abſtammen — ſtets gewiſſe, wenn auch geringfügige Unterſchiede zeigen, ſo müſſen wir annehmen, daß ſolche auch ſchon in der chemiſchen Plasma- Konſtitution der kopulirenden Keimzellen ſelbſt vorhanden ſind (Geſetz der individuellen Variation, Natürl. Schöpfgsg. S. 215). Aus dieſen Thatſachen allein ſchon läßt ſich die unendliche Mannigfaltigkeit der individuellen Seelen- und Form-Erſchei- nungen in der organiſchen Natur begreifen. In extremer, aber einſeitiger Konſequenz ergiebt ſich daraus die Auffaſſung von Weismann, welcher die Amphimixis, die Miſchung des Keimplasma bei der geſchlechtlichen Zeugung, ſogar als die all- gemeine und ausſchließliche Urſache der individuellen Variabilität betrachtet. Dieſe exkluſive Auffaſſung, die mit ſeiner Theorie

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/180>, abgerufen am 16.04.2024.