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Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744.

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Erste Abhandlung.

Der Gebrauch der Lieder ist den Menschen sehr natürlich.
Sie sind das Vergnügen und der Zeitvertreib der
Kinder und der Alten, der Armen und der Reichen,
derer, welche arbeiten, und derer, welche die Ruhe
lieben. Dieser Geschmack, welchen man selbst im Grunde der Natur
findet, muß in allen Zeiten, und unter allen Völkern der Welt, allge-
mein gewesen seyn. Folglich haben die Griechen, wenn sie sich darinn
übten, nichts anders gethan, als was schon die Völker, die vor ihnen
gewesen waren, thaten, und was auch seit der Zeit diejenigen, welche
ihnen gefolget sind, gethan haben. Nur ist dabey, zum Vortheile der
Griechen, dieser Unterscheid, daß ihre Lieder leichter auf die Nachwelt
gekommen sind, weil ihre Buchstaben sich weiter ausgebreitet, und län-
ger erhalten haben, als die andern.

Die Lieder waren bey ihnen eher im Gebrauch, als die Buchsta-
ben. Weil ihnen Denkmale fehlten, worinn sie ihre Gesetze und ihre
Geschichte auf bewahren konnten: so setzten sie dieselben in einen Gesang,
um sich ihrer desto besser zu erinnern.

Sie sungen ihre Gesetze, und dieses machte, daß man den Gesetzen
und den Liedern einerley Namen, nämlich das Wort [fremdsprachliches Material - 1 Wort fehlt], beylegte.
Denn wenn Aristoteles1 um die Ursache dieser Gleichheit des Namens
für zwo so unterschiedene Sachen fraget: so antwortet er selber, es sey
darum geschehen, weil man, ehe die Buchstaben bekannt waren, die
Gesetze gesungen, um sie nicht zu vergessen. Es ist wahr, Josephus2
glaubet, und Plutarchus3 muthmaasset, daß das Wort [fremdsprachliches Material - 1 Wort fehlt] in Ver-
gleichung mit diesen ersten Zeiten neu sey, und erst nach der Zeit Ho-

mers
1 Arist probl. 17. 28.
2 Joseph. contra Appion.
3 Plutarch. de Homeri Poet.
A 2


Erſte Abhandlung.

Der Gebrauch der Lieder iſt den Menſchen ſehr natuͤrlich.
Sie ſind das Vergnuͤgen und der Zeitvertreib der
Kinder und der Alten, der Armen und der Reichen,
derer, welche arbeiten, und derer, welche die Ruhe
lieben. Dieſer Geſchmack, welchen man ſelbſt im Grunde der Natur
findet, muß in allen Zeiten, und unter allen Voͤlkern der Welt, allge-
mein geweſen ſeyn. Folglich haben die Griechen, wenn ſie ſich darinn
uͤbten, nichts anders gethan, als was ſchon die Voͤlker, die vor ihnen
geweſen waren, thaten, und was auch ſeit der Zeit diejenigen, welche
ihnen gefolget ſind, gethan haben. Nur iſt dabey, zum Vortheile der
Griechen, dieſer Unterſcheid, daß ihre Lieder leichter auf die Nachwelt
gekommen ſind, weil ihre Buchſtaben ſich weiter ausgebreitet, und laͤn-
ger erhalten haben, als die andern.

Die Lieder waren bey ihnen eher im Gebrauch, als die Buchſta-
ben. Weil ihnen Denkmale fehlten, worinn ſie ihre Geſetze und ihre
Geſchichte auf bewahren konnten: ſo ſetzten ſie dieſelben in einen Geſang,
um ſich ihrer deſto beſſer zu erinnern.

Sie ſungen ihre Geſetze, und dieſes machte, daß man den Geſetzen
und den Liedern einerley Namen, naͤmlich das Wort [fremdsprachliches Material – 1 Wort fehlt], beylegte.
Denn wenn Ariſtoteles1 um die Urſache dieſer Gleichheit des Namens
fuͤr zwo ſo unterſchiedene Sachen fraget: ſo antwortet er ſelber, es ſey
darum geſchehen, weil man, ehe die Buchſtaben bekannt waren, die
Geſetze geſungen, um ſie nicht zu vergeſſen. Es iſt wahr, Joſephus2
glaubet, und Plutarchus3 muthmaaſſet, daß das Wort [fremdsprachliches Material – 1 Wort fehlt] in Ver-
gleichung mit dieſen erſten Zeiten neu ſey, und erſt nach der Zeit Ho-

mers
1 Ariſt probl. 17. 28.
2 Joſeph. contra Appion.
3 Plutarch. de Homeri Poët.
A 2
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Zitationshilfe: Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hagedorn_sammlung02_1744/13>, abgerufen am 20.04.2024.