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Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744.

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wissen Umständen, die mit Scherz und Lust begleitet wurden, Wein
einschenkte.

Die atheniensischen Scolien waren vor allen andern wegen ihres
Alterthums und der natürlichen Schreib-Art ihrer ersten Verfasser be-
liebt. Wenn auch Athenäus52 dieses nicht versicherte: so würden uns
doch schon die Stücke, welche wir aus dem Alterthum in dieser Materie
noch aufzuweisen haben, genugsam hiervon überführen können. Die
Anzahl derer Scolien, wovon die alten Schriftsteller reden, oder auch
nur derer, welche ganz zu uns gekommen sind, ist ziemlich groß. Ein
Theil derselben gehet auf die Sitten-Lehre; der andere betrifft die My-
thologie oder die Geschichte; und noch einige andere handeln von gemei-
nen und ordentlichen Dingen. Unter diese drey Classen können sie alle
gebracht werden.

Die erste Classe begreift die moralischen Scolien in sich. Casau-
bonus53 will behaupten, daß die Sitten den Jnhalt der meisten alten
Scolien ausmachten; ja, daß sie gar auf die Sprüche der sieben grie-
chischen Weisen gemacht waren, und daß diese Sprüche sonst [fremdsprachliches Material - 1 Wort fehlt],
Gesänge, hiessen; weil sie bey den Gastereyen gefungen wurden. Von
dieser Art war die Scolie, welche Athenäus54 in diesen Worten an-
führet, ohne den Verfasser derselben anzuzeigen.

Macht euch ja, noch auf dem Lande,
Schon zur Fahrt bereit;
Da seht, ob ihr auch im Stande
Fortzuschiffen seyd.
Durch die Wellen müsst ihr streichen,
Wie der Wind euch führt,
Der denn in den Wasser-Reichen
Unumschränkt regiert.

Casaubonus55 glaubet, daß dieses Stück nichts anders, als eine
Allegorie, sey, die man aus dem Spruche des Pittacus gemacht habe.
Dieser Weise sagte: Ein kluger Mann muß, ehe verdrüßliche Zufälle
entstehen, dafür sorgen, daß sie nicht entstehen; und ein tapferer Mann
muß sie, wenn sie einmal entstanden sind, wieder wegschaffen. Auf
diese Art könnten wir vielleicht mit geringer Mühe aus vielen griechischen
Scolien die Sprüche der sieben Weisen herausbringen; aber würden
wir uns damit nicht in die Gefahr setzen, Muthmassungen für Wahr-
heiten zu geben? Lasst uns also die andern Scolien durchgehen, ohne
darinn zu suchen, ob sie sich auf diesen oder jenen Spruch der Alten von
weiten beziehen.

Timo-
52 Athen. Lib. XV. C. 14.
53 Casaub. animadv. in Athen. L. XV.
C.
15.
54 Athen. Lib. XV. C. 15.
55 Casaub. loc. cit.
B 2

wiſſen Umſtaͤnden, die mit Scherz und Luſt begleitet wurden, Wein
einſchenkte.

Die athenienſiſchen Scolien waren vor allen andern wegen ihres
Alterthums und der natuͤrlichen Schreib-Art ihrer erſten Verfaſſer be-
liebt. Wenn auch Athenaͤus52 dieſes nicht verſicherte: ſo wuͤrden uns
doch ſchon die Stuͤcke, welche wir aus dem Alterthum in dieſer Materie
noch aufzuweiſen haben, genugſam hiervon uͤberfuͤhren koͤnnen. Die
Anzahl derer Scolien, wovon die alten Schriftſteller reden, oder auch
nur derer, welche ganz zu uns gekommen ſind, iſt ziemlich groß. Ein
Theil derſelben gehet auf die Sitten-Lehre; der andere betrifft die My-
thologie oder die Geſchichte; und noch einige andere handeln von gemei-
nen und ordentlichen Dingen. Unter dieſe drey Claſſen koͤnnen ſie alle
gebracht werden.

Die erſte Claſſe begreift die moraliſchen Scolien in ſich. Caſau-
bonus53 will behaupten, daß die Sitten den Jnhalt der meiſten alten
Scolien ausmachten; ja, daß ſie gar auf die Spruͤche der ſieben grie-
chiſchen Weiſen gemacht waren, und daß dieſe Spruͤche ſonſt [fremdsprachliches Material – 1 Wort fehlt],
Geſaͤnge, hieſſen; weil ſie bey den Gaſtereyen gefungen wurden. Von
dieſer Art war die Scolie, welche Athenaͤus54 in dieſen Worten an-
fuͤhret, ohne den Verfaſſer derſelben anzuzeigen.

Macht euch ja, noch auf dem Lande,
Schon zur Fahrt bereit;
Da ſeht, ob ihr auch im Stande
Fortzuſchiffen ſeyd.
Durch die Wellen muͤſſt ihr ſtreichen,
Wie der Wind euch fuͤhrt,
Der denn in den Waſſer-Reichen
Unumſchraͤnkt regiert.

Caſaubonus55 glaubet, daß dieſes Stuͤck nichts anders, als eine
Allegorie, ſey, die man aus dem Spruche des Pittacus gemacht habe.
Dieſer Weiſe ſagte: Ein kluger Mann muß, ehe verdruͤßliche Zufaͤlle
entſtehen, dafuͤr ſorgen, daß ſie nicht entſtehen; und ein tapferer Mann
muß ſie, wenn ſie einmal entſtanden ſind, wieder wegſchaffen. Auf
dieſe Art koͤnnten wir vielleicht mit geringer Muͤhe aus vielen griechiſchen
Scolien die Spruͤche der ſieben Weiſen herausbringen; aber wuͤrden
wir uns damit nicht in die Gefahr ſetzen, Muthmaſſungen fuͤr Wahr-
heiten zu geben? Laſſt uns alſo die andern Scolien durchgehen, ohne
darinn zu ſuchen, ob ſie ſich auf dieſen oder jenen Spruch der Alten von
weiten beziehen.

Timo-
52 Athen. Lib. XV. C. 14.
53 Caſaub. animadv. in Athen. L. XV.
C.
15.
54 Athen. Lib. XV. C. 15.
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B 2
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[11/0021] wiſſen Umſtaͤnden, die mit Scherz und Luſt begleitet wurden, Wein einſchenkte. Die athenienſiſchen Scolien waren vor allen andern wegen ihres Alterthums und der natuͤrlichen Schreib-Art ihrer erſten Verfaſſer be- liebt. Wenn auch Athenaͤus 52 dieſes nicht verſicherte: ſo wuͤrden uns doch ſchon die Stuͤcke, welche wir aus dem Alterthum in dieſer Materie noch aufzuweiſen haben, genugſam hiervon uͤberfuͤhren koͤnnen. Die Anzahl derer Scolien, wovon die alten Schriftſteller reden, oder auch nur derer, welche ganz zu uns gekommen ſind, iſt ziemlich groß. Ein Theil derſelben gehet auf die Sitten-Lehre; der andere betrifft die My- thologie oder die Geſchichte; und noch einige andere handeln von gemei- nen und ordentlichen Dingen. Unter dieſe drey Claſſen koͤnnen ſie alle gebracht werden. Die erſte Claſſe begreift die moraliſchen Scolien in ſich. Caſau- bonus 53 will behaupten, daß die Sitten den Jnhalt der meiſten alten Scolien ausmachten; ja, daß ſie gar auf die Spruͤche der ſieben grie- chiſchen Weiſen gemacht waren, und daß dieſe Spruͤche ſonſt _, Geſaͤnge, hieſſen; weil ſie bey den Gaſtereyen gefungen wurden. Von dieſer Art war die Scolie, welche Athenaͤus 54 in dieſen Worten an- fuͤhret, ohne den Verfaſſer derſelben anzuzeigen. Macht euch ja, noch auf dem Lande, Schon zur Fahrt bereit; Da ſeht, ob ihr auch im Stande Fortzuſchiffen ſeyd. Durch die Wellen muͤſſt ihr ſtreichen, Wie der Wind euch fuͤhrt, Der denn in den Waſſer-Reichen Unumſchraͤnkt regiert. Caſaubonus 55 glaubet, daß dieſes Stuͤck nichts anders, als eine Allegorie, ſey, die man aus dem Spruche des Pittacus gemacht habe. Dieſer Weiſe ſagte: Ein kluger Mann muß, ehe verdruͤßliche Zufaͤlle entſtehen, dafuͤr ſorgen, daß ſie nicht entſtehen; und ein tapferer Mann muß ſie, wenn ſie einmal entſtanden ſind, wieder wegſchaffen. Auf dieſe Art koͤnnten wir vielleicht mit geringer Muͤhe aus vielen griechiſchen Scolien die Spruͤche der ſieben Weiſen herausbringen; aber wuͤrden wir uns damit nicht in die Gefahr ſetzen, Muthmaſſungen fuͤr Wahr- heiten zu geben? Laſſt uns alſo die andern Scolien durchgehen, ohne darinn zu ſuchen, ob ſie ſich auf dieſen oder jenen Spruch der Alten von weiten beziehen. Timo- 52 Athen. Lib. XV. C. 14. 53 Caſaub. animadv. in Athen. L. XV. C. 15. 54 Athen. Lib. XV. C. 15. 55 Caſaub. loc. cit. B 2

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Zitationshilfe: Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hagedorn_sammlung02_1744/21>, abgerufen am 19.04.2024.