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Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744.

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dem Geliebten redet, so preiset man desselben Vollkommenheiten und
Schönheiten durch Lieder, deren Wirkung allemal viel lebhafter ist und
länger währet, als der Eindruck, den alle andere Arten der Rede machen.
Schicket man seinem Schatze Briefe oder Geschenke, so suchet man den
Wehrt derselben durch einige verliebte Verse, die sich singen lassen, zu
vermehren. Kurz, sagt Plutarch nach dem Theophrast, drey Sachen
bewegen uns zum Singen: Der Schmerz, die Freude und die Begei-
sterung. Der Schmerz preßt uns Seufzer und Klagen aus, die dem
Singen nahe kommen; und daher kömmt es eben, daß die Redner
bey den Schlüssen ihrer Reden, und die Schau-Spieler in ihren Kla-
gen eine singende Stimme annehmen. Die Freude verursacht heftige
Bewegungen; Leute von schlechter Lebens-Art treibet sie zum Springen
und Tanzen: so weit gehn nun zwar vernünftigere und gesetztere Per-
sonen nicht; aber sie bringt sie doch gewiß zum Singen. Die Begei-
sterung bringt in uns gewaltige Veränderungen hervor; sie verändert
so gar die Stimme, und reißt den ganzen Körper aus seiner ordentlichen
Stellung. Dieses sehen wir bey dem Geschrey der Bacchanten und
aus den Antworten der Orakel; und in beiden hören wir auch eine ge-
wisse Musik und einen Tact. Nun ist kein Zweifel, daß sich bey der
Liebe die heftigsten Schmerzen, die lebhaftesten Freuden und die stärk-
sten Entzückungen oder Begeisterungen befinden. Dieser Philosoph
schließt demnach so: Da diese Leidenschaft die drey Ursachen unserer
Neigung zum Singen in sich vereiniget, so muß sie gewiß unter allen
am geschicktesten seyn, uns Lieder singen zu lehren.

Wir haben schon unter den Scolien, oder Trink-Liedern der Grie-
chen einige Exempel von solchen verliebten Liedern gesehen. Es ist glaub-
lich, daß die Lieder der Hirten oft von dieser Art waren. Vielleicht wur-
den auch damals, wie heut zu Tage, bey andern Verrichtungen und Ge-
legenheiten Lieder gesungen, deren Jnhalt blos die Liebe war. Dem sey,
wie ihm wolle; Athenäus hat uns das Gedächtniß dreier Lieder von
dieser Art erhalten; und wir müssen sie hier auch nicht vergessen.

Von dem ersten schreibt er so: Clearch redet in dem ersten Buche
seiner Liebes-Geschichte von einem Liede, welches Nomion heißt, und
von der Eriphanis verfertiget war, folgendergestalt. Die Sängerinn
Eriphanis liebte den Jäger Menalcas. Aus Liebe zu ihm begab sie sich
auch auf die Jagd, und setzte mit ihm den wilden Thieren nach. Sie
durchstrich die bergigten Gegenden, wenn sie von Dorn-Büschen noch
so sehr bedeckt waren, und das Herumschweifen der Jno ist mit dem ih-
rigen nicht in Vergleichung zu stellen. Die Schmerzen dieser verliebten
unglücklichen Schöne erweckten nicht allein in den unempfindlichsten
Menschen, sondern auch in den wildesten und grausamsten Thieren ein
Mitleiden, ja gar zärtliche und verliebte Bewegungen. Hierüber nun
machte
E 3

dem Geliebten redet, ſo preiſet man deſſelben Vollkommenheiten und
Schoͤnheiten durch Lieder, deren Wirkung allemal viel lebhafter iſt und
laͤnger waͤhret, als der Eindruck, den alle andere Arten der Rede machen.
Schicket man ſeinem Schatze Briefe oder Geſchenke, ſo ſuchet man den
Wehrt derſelben durch einige verliebte Verſe, die ſich ſingen laſſen, zu
vermehren. Kurz, ſagt Plutarch nach dem Theophraſt, drey Sachen
bewegen uns zum Singen: Der Schmerz, die Freude und die Begei-
ſterung. Der Schmerz preßt uns Seufzer und Klagen aus, die dem
Singen nahe kommen; und daher koͤmmt es eben, daß die Redner
bey den Schluͤſſen ihrer Reden, und die Schau-Spieler in ihren Kla-
gen eine ſingende Stimme annehmen. Die Freude verurſacht heftige
Bewegungen; Leute von ſchlechter Lebens-Art treibet ſie zum Springen
und Tanzen: ſo weit gehn nun zwar vernuͤnftigere und geſetztere Per-
ſonen nicht; aber ſie bringt ſie doch gewiß zum Singen. Die Begei-
ſterung bringt in uns gewaltige Veraͤnderungen hervor; ſie veraͤndert
ſo gar die Stimme, und reißt den ganzen Koͤrper aus ſeiner ordentlichen
Stellung. Dieſes ſehen wir bey dem Geſchrey der Bacchanten und
aus den Antworten der Orakel; und in beiden hoͤren wir auch eine ge-
wiſſe Muſik und einen Tact. Nun iſt kein Zweifel, daß ſich bey der
Liebe die heftigſten Schmerzen, die lebhafteſten Freuden und die ſtaͤrk-
ſten Entzuͤckungen oder Begeiſterungen befinden. Dieſer Philoſoph
ſchließt demnach ſo: Da dieſe Leidenſchaft die drey Urſachen unſerer
Neigung zum Singen in ſich vereiniget, ſo muß ſie gewiß unter allen
am geſchickteſten ſeyn, uns Lieder ſingen zu lehren.

Wir haben ſchon unter den Scolien, oder Trink-Liedern der Grie-
chen einige Exempel von ſolchen verliebten Liedern geſehen. Es iſt glaub-
lich, daß die Lieder der Hirten oft von dieſer Art waren. Vielleicht wur-
den auch damals, wie heut zu Tage, bey andern Verrichtungen und Ge-
legenheiten Lieder geſungen, deren Jnhalt blos die Liebe war. Dem ſey,
wie ihm wolle; Athenaͤus hat uns das Gedaͤchtniß dreier Lieder von
dieſer Art erhalten; und wir muͤſſen ſie hier auch nicht vergeſſen.

Von dem erſten ſchreibt er ſo: Clearch redet in dem erſten Buche
ſeiner Liebes-Geſchichte von einem Liede, welches Nomion heißt, und
von der Eriphanis verfertiget war, folgendergeſtalt. Die Saͤngerinn
Eriphanis liebte den Jaͤger Menalcas. Aus Liebe zu ihm begab ſie ſich
auch auf die Jagd, und ſetzte mit ihm den wilden Thieren nach. Sie
durchſtrich die bergigten Gegenden, wenn ſie von Dorn-Buͤſchen noch
ſo ſehr bedeckt waren, und das Herumſchweifen der Jno iſt mit dem ih-
rigen nicht in Vergleichung zu ſtellen. Die Schmerzen dieſer verliebten
ungluͤcklichen Schoͤne erweckten nicht allein in den unempfindlichſten
Menſchen, ſondern auch in den wildeſten und grauſamſten Thieren ein
Mitleiden, ja gar zaͤrtliche und verliebte Bewegungen. Hieruͤber nun
machte
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[37/0047] dem Geliebten redet, ſo preiſet man deſſelben Vollkommenheiten und Schoͤnheiten durch Lieder, deren Wirkung allemal viel lebhafter iſt und laͤnger waͤhret, als der Eindruck, den alle andere Arten der Rede machen. Schicket man ſeinem Schatze Briefe oder Geſchenke, ſo ſuchet man den Wehrt derſelben durch einige verliebte Verſe, die ſich ſingen laſſen, zu vermehren. Kurz, ſagt Plutarch nach dem Theophraſt, drey Sachen bewegen uns zum Singen: Der Schmerz, die Freude und die Begei- ſterung. Der Schmerz preßt uns Seufzer und Klagen aus, die dem Singen nahe kommen; und daher koͤmmt es eben, daß die Redner bey den Schluͤſſen ihrer Reden, und die Schau-Spieler in ihren Kla- gen eine ſingende Stimme annehmen. Die Freude verurſacht heftige Bewegungen; Leute von ſchlechter Lebens-Art treibet ſie zum Springen und Tanzen: ſo weit gehn nun zwar vernuͤnftigere und geſetztere Per- ſonen nicht; aber ſie bringt ſie doch gewiß zum Singen. Die Begei- ſterung bringt in uns gewaltige Veraͤnderungen hervor; ſie veraͤndert ſo gar die Stimme, und reißt den ganzen Koͤrper aus ſeiner ordentlichen Stellung. Dieſes ſehen wir bey dem Geſchrey der Bacchanten und aus den Antworten der Orakel; und in beiden hoͤren wir auch eine ge- wiſſe Muſik und einen Tact. Nun iſt kein Zweifel, daß ſich bey der Liebe die heftigſten Schmerzen, die lebhafteſten Freuden und die ſtaͤrk- ſten Entzuͤckungen oder Begeiſterungen befinden. Dieſer Philoſoph ſchließt demnach ſo: Da dieſe Leidenſchaft die drey Urſachen unſerer Neigung zum Singen in ſich vereiniget, ſo muß ſie gewiß unter allen am geſchickteſten ſeyn, uns Lieder ſingen zu lehren. Wir haben ſchon unter den Scolien, oder Trink-Liedern der Grie- chen einige Exempel von ſolchen verliebten Liedern geſehen. Es iſt glaub- lich, daß die Lieder der Hirten oft von dieſer Art waren. Vielleicht wur- den auch damals, wie heut zu Tage, bey andern Verrichtungen und Ge- legenheiten Lieder geſungen, deren Jnhalt blos die Liebe war. Dem ſey, wie ihm wolle; Athenaͤus hat uns das Gedaͤchtniß dreier Lieder von dieſer Art erhalten; und wir muͤſſen ſie hier auch nicht vergeſſen. Von dem erſten ſchreibt er ſo: Clearch redet in dem erſten Buche ſeiner Liebes-Geſchichte von einem Liede, welches Nomion heißt, und von der Eriphanis verfertiget war, folgendergeſtalt. Die Saͤngerinn Eriphanis liebte den Jaͤger Menalcas. Aus Liebe zu ihm begab ſie ſich auch auf die Jagd, und ſetzte mit ihm den wilden Thieren nach. Sie durchſtrich die bergigten Gegenden, wenn ſie von Dorn-Buͤſchen noch ſo ſehr bedeckt waren, und das Herumſchweifen der Jno iſt mit dem ih- rigen nicht in Vergleichung zu ſtellen. Die Schmerzen dieſer verliebten ungluͤcklichen Schoͤne erweckten nicht allein in den unempfindlichſten Menſchen, ſondern auch in den wildeſten und grauſamſten Thieren ein Mitleiden, ja gar zaͤrtliche und verliebte Bewegungen. Hieruͤber nun machte E 3

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Zitationshilfe: Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hagedorn_sammlung02_1744/47>, abgerufen am 18.04.2024.