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Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744.

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Uebrigens heißt der Linos bey den Egyptiern Maneros. Sie be-
haupten, daß Maneros der einzige Sohn ihres ersten Königes gewesen
sey; und als ihn ein frühzeitiger Tod ihnen entrissen, so hätten sie sei-
nem Gedächtnisse zu Ehren diese Art von Trauer-Liede gesungen, wel-
ches also seinen Ursprung bloß ihnen zu danken habe. Der Text des
Herodots giebt uns zu erkennen, daß es ein Leichen-Leid gewesen sey.
Sophocles62 redet von dem Liede Ailinos in eben dem Verstande. Un-
terdessen wurde doch auch der Linos und Ailinos nicht nur in Trauer
und Betrübniß, sondern auch in der Freude gebraucht, wie Euripides
beym Athenäus63 meldet. Pollux64 giebt uns von diesem Liede noch
einen andern Begriff, wenn er saget, daß der Linos und der Lityerses
Lieder der Feld-Arbeiter gewesen. Da Herodotus, Euripides und Pol-
lux, einer von dem andern, in ihrem Leben durch eine Zwischen-Zeit von
etlichen Jahrhunderten entfernt gewesen sind, so ist es wahrscheinlich,
daß der Linos Veränderungen erlitten, die aus demselben, nach der Ver-
schiedenheit der Zeiten, ein verschiedenes Lied gemacht haben.



62 Sophocl. in Ajace.
63 Athen. L. XIII. C. 3.
64 Pollux L. I. C. 1.

Uebrigens heißt der Linos bey den Egyptiern Maneros. Sie be-
haupten, daß Maneros der einzige Sohn ihres erſten Koͤniges geweſen
ſey; und als ihn ein fruͤhzeitiger Tod ihnen entriſſen, ſo haͤtten ſie ſei-
nem Gedaͤchtniſſe zu Ehren dieſe Art von Trauer-Liede geſungen, wel-
ches alſo ſeinen Urſprung bloß ihnen zu danken habe. Der Text des
Herodots giebt uns zu erkennen, daß es ein Leichen-Leid geweſen ſey.
Sophocles62 redet von dem Liede Ailinos in eben dem Verſtande. Un-
terdeſſen wurde doch auch der Linos und Ailinos nicht nur in Trauer
und Betruͤbniß, ſondern auch in der Freude gebraucht, wie Euripides
beym Athenaͤus63 meldet. Pollux64 giebt uns von dieſem Liede noch
einen andern Begriff, wenn er ſaget, daß der Linos und der Lityerſes
Lieder der Feld-Arbeiter geweſen. Da Herodotus, Euripides und Pol-
lux, einer von dem andern, in ihrem Leben durch eine Zwiſchen-Zeit von
etlichen Jahrhunderten entfernt geweſen ſind, ſo iſt es wahrſcheinlich,
daß der Linos Veraͤnderungen erlitten, die aus demſelben, nach der Ver-
ſchiedenheit der Zeiten, ein verſchiedenes Lied gemacht haben.



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63 Athen. L. XIII. C. 3.
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[40/0050] Uebrigens heißt der Linos bey den Egyptiern Maneros. Sie be- haupten, daß Maneros der einzige Sohn ihres erſten Koͤniges geweſen ſey; und als ihn ein fruͤhzeitiger Tod ihnen entriſſen, ſo haͤtten ſie ſei- nem Gedaͤchtniſſe zu Ehren dieſe Art von Trauer-Liede geſungen, wel- ches alſo ſeinen Urſprung bloß ihnen zu danken habe. Der Text des Herodots giebt uns zu erkennen, daß es ein Leichen-Leid geweſen ſey. Sophocles 62 redet von dem Liede Ailinos in eben dem Verſtande. Un- terdeſſen wurde doch auch der Linos und Ailinos nicht nur in Trauer und Betruͤbniß, ſondern auch in der Freude gebraucht, wie Euripides beym Athenaͤus 63 meldet. Pollux 64 giebt uns von dieſem Liede noch einen andern Begriff, wenn er ſaget, daß der Linos und der Lityerſes Lieder der Feld-Arbeiter geweſen. Da Herodotus, Euripides und Pol- lux, einer von dem andern, in ihrem Leben durch eine Zwiſchen-Zeit von etlichen Jahrhunderten entfernt geweſen ſind, ſo iſt es wahrſcheinlich, daß der Linos Veraͤnderungen erlitten, die aus demſelben, nach der Ver- ſchiedenheit der Zeiten, ein verſchiedenes Lied gemacht haben. 62 Sophocl. in Ajace. 63 Athen. L. XIII. C. 3. 64 Pollux L. I. C. 1.

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Zitationshilfe: Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hagedorn_sammlung02_1744/50>, abgerufen am 24.04.2024.