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[Hamann, Johann Georg]: Sokratische Denkwürdigkeiten. Amsterdam [i. e. Königsberg], 1759.

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Maulwurfshügel, sondern ein Thurn Li-
banons
muß es seyn, der nach Damesek
gaft.
*)

Was ersetzt bey einen Homer die Unwis-
senheit der Kunstregeln, die ein Aristoteles
nach ihm erdacht, und was einem Schakes-
spear
die Unwissenheit oder Uebertretung je-
ner kritischen Gesetze? Das Genie ist die
einmüthige Antwort. Sokrates hatte also
freylich gut unwissend seyn; er hatte einen
Genius, auf dessen Wissenschaft er sich ver-
lassen konnte, den er liebte und fürchtete als
seinen Gott, an dessen Frieden ihm mehr
gelegen war, als an aller Vernunft der E-
gypter und Griechen, dessen Stimme er glaub-
te,
und durch dessen Wind, wie der erfahr-
ne Doctor Hill uns bewiesen, der leere Ver-
stand eines Sokrates so gut als der Schoos
einer reinen Jungfrau, fruchtbar werden kann.

Ob dieser Dämon des Sokrates nichts
als eine herrschende Leidenschaft gewesen und
bey welchem Namen sie von unsern Sitten-
lehrern geruffen wird, oder ob er einen Fund
seiner Staatslist; ob er ein Engel oder Ko-

bold
*) Hohelied Salom. VII.

Maulwurfshuͤgel, ſondern ein Thurn Li-
banons
muß es ſeyn, der nach Dameſek
gaft.
*)

Was erſetzt bey einen Homer die Unwiſ-
ſenheit der Kunſtregeln, die ein Ariſtoteles
nach ihm erdacht, und was einem Schakes-
ſpear
die Unwiſſenheit oder Uebertretung je-
ner kritiſchen Geſetze? Das Genie iſt die
einmuͤthige Antwort. Sokrates hatte alſo
freylich gut unwiſſend ſeyn; er hatte einen
Genius, auf deſſen Wiſſenſchaft er ſich ver-
laſſen konnte, den er liebte und fuͤrchtete als
ſeinen Gott, an deſſen Frieden ihm mehr
gelegen war, als an aller Vernunft der E-
gypter und Griechen, deſſen Stimme er glaub-
te,
und durch deſſen Wind, wie der erfahr-
ne Doctor Hill uns bewieſen, der leere Ver-
ſtand eines Sokrates ſo gut als der Schoos
einer reinen Jungfrau, fruchtbar werden kann.

Ob dieſer Daͤmon des Sokrates nichts
als eine herrſchende Leidenſchaft geweſen und
bey welchem Namen ſie von unſern Sitten-
lehrern geruffen wird, oder ob er einen Fund
ſeiner Staatsliſt; ob er ein Engel oder Ko-

bold
*) Hohelied Salom. VII.
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[52/0056] Maulwurfshuͤgel, ſondern ein Thurn Li- banons muß es ſeyn, der nach Dameſek gaft. *) Was erſetzt bey einen Homer die Unwiſ- ſenheit der Kunſtregeln, die ein Ariſtoteles nach ihm erdacht, und was einem Schakes- ſpear die Unwiſſenheit oder Uebertretung je- ner kritiſchen Geſetze? Das Genie iſt die einmuͤthige Antwort. Sokrates hatte alſo freylich gut unwiſſend ſeyn; er hatte einen Genius, auf deſſen Wiſſenſchaft er ſich ver- laſſen konnte, den er liebte und fuͤrchtete als ſeinen Gott, an deſſen Frieden ihm mehr gelegen war, als an aller Vernunft der E- gypter und Griechen, deſſen Stimme er glaub- te, und durch deſſen Wind, wie der erfahr- ne Doctor Hill uns bewieſen, der leere Ver- ſtand eines Sokrates ſo gut als der Schoos einer reinen Jungfrau, fruchtbar werden kann. Ob dieſer Daͤmon des Sokrates nichts als eine herrſchende Leidenſchaft geweſen und bey welchem Namen ſie von unſern Sitten- lehrern geruffen wird, oder ob er einen Fund ſeiner Staatsliſt; ob er ein Engel oder Ko- bold *) Hohelied Salom. VII.

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Zitationshilfe: [Hamann, Johann Georg]: Sokratische Denkwürdigkeiten. Amsterdam [i. e. Königsberg], 1759, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hamann_denkwuerdigkeiten_1759/56>, abgerufen am 29.03.2024.