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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Gesetzt, wir haben ein Gespräch geführt, das oft-
mals abbrach; und immer von neuem angesponnen, doch
niemals recht in Zug kam: so sagen wir am Ende, die
Zeit sey uns lang geworden. Hier kommt nun zu den
unangenehmen Empfindungen während der Pausen noch
etwas anderes. Wir irren uns in Hinsicht der verflosse-
nen Zeit; wir schätzen sie unrichtig; unsre Uhr sagt uns,
es sey nicht, wie wir meinten, eine ganze, sondern nur
eine halbe Stunde verflossen. Dagegen, wenn ein Ge-
spräch so fortläuft, dass sein Anfangspunct uns während
der ganzen Zeit mit allem, was hinzukommt, wohl ver-
schmelzend noch gegenwärtig bleibt am Ende: dann täu-
schen wir uns auf entgegengesetzte Weise; wir haben
Mühe, zu glauben, dass schon soviel Zeit verlaufen sey.
Um dies zu erklären: erinnere man sich an die Eigen-
thümlichkeit der rückwärts gerichteten Reproduction.
In der Reihe a, b, c, d, e, stehe man am Ende bey e.
Diese letzte Vorstellung ruft die vorhergehenden jedesmal
simultan zurück; aber abgestuft; so weit die Verschmel-
zung reicht. Waren damals, als e eintrat, a und b schon
ganz gesunken: so kann jenes nur d, und minder c her-
vorrufen. Indem, hiedurch freyer von der Hemmung,
sich nun durch eigne Kraft c höher hebt: steigen allmählig
auch a und b. Aber eben diese Vorstellungen konnten
auch unmittelbar von e hervor gehoben werden, wenn
nur damals, als die Reihe sich bildete, a und b noch
im Bewusstseyn gegenwärtig blieben, indem e hinzutrat.
Ueberdies fällt die Abstufung verschieden aus, je nach-
dem die Reihe in ihrem Entstehen sich zusammenfügt.
Wäre das ganze a, das ganze b, und so ferner, völlig
ungehemmt gewesen, als e, das letzte Glied, hinzukam:
so würde gar keine Abstufung in der Reproduction seyn;
und e würde die vorigen Glieder gar nicht als ein Ver-
gangenes, sondern als ein Gegenwärtiges reproduciren.
Dieser Aufhebung der Zeitform nähert sich nun die Re-
production um so mehr, je grössere Reste der frühern
Glieder sich mit den späteren vereinigt haben; die ver-

Gesetzt, wir haben ein Gespräch geführt, das oft-
mals abbrach; und immer von neuem angesponnen, doch
niemals recht in Zug kam: so sagen wir am Ende, die
Zeit sey uns lang geworden. Hier kommt nun zu den
unangenehmen Empfindungen während der Pausen noch
etwas anderes. Wir irren uns in Hinsicht der verflosse-
nen Zeit; wir schätzen sie unrichtig; unsre Uhr sagt uns,
es sey nicht, wie wir meinten, eine ganze, sondern nur
eine halbe Stunde verflossen. Dagegen, wenn ein Ge-
spräch so fortläuft, daſs sein Anfangspunct uns während
der ganzen Zeit mit allem, was hinzukommt, wohl ver-
schmelzend noch gegenwärtig bleibt am Ende: dann täu-
schen wir uns auf entgegengesetzte Weise; wir haben
Mühe, zu glauben, daſs schon soviel Zeit verlaufen sey.
Um dies zu erklären: erinnere man sich an die Eigen-
thümlichkeit der rückwärts gerichteten Reproduction.
In der Reihe a, b, c, d, e, stehe man am Ende bey e.
Diese letzte Vorstellung ruft die vorhergehenden jedesmal
simultan zurück; aber abgestuft; so weit die Verschmel-
zung reicht. Waren damals, als e eintrat, a und b schon
ganz gesunken: so kann jenes nur d, und minder c her-
vorrufen. Indem, hiedurch freyer von der Hemmung,
sich nun durch eigne Kraft c höher hebt: steigen allmählig
auch a und b. Aber eben diese Vorstellungen konnten
auch unmittelbar von e hervor gehoben werden, wenn
nur damals, als die Reihe sich bildete, a und b noch
im Bewuſstseyn gegenwärtig blieben, indem e hinzutrat.
Ueberdies fällt die Abstufung verschieden aus, je nach-
dem die Reihe in ihrem Entstehen sich zusammenfügt.
Wäre das ganze a, das ganze b, und so ferner, völlig
ungehemmt gewesen, als e, das letzte Glied, hinzukam:
so würde gar keine Abstufung in der Reproduction seyn;
und e würde die vorigen Glieder gar nicht als ein Ver-
gangenes, sondern als ein Gegenwärtiges reproduciren.
Dieser Aufhebung der Zeitform nähert sich nun die Re-
production um so mehr, je gröſsere Reste der frühern
Glieder sich mit den späteren vereinigt haben; die ver-

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[157/0192] Gesetzt, wir haben ein Gespräch geführt, das oft- mals abbrach; und immer von neuem angesponnen, doch niemals recht in Zug kam: so sagen wir am Ende, die Zeit sey uns lang geworden. Hier kommt nun zu den unangenehmen Empfindungen während der Pausen noch etwas anderes. Wir irren uns in Hinsicht der verflosse- nen Zeit; wir schätzen sie unrichtig; unsre Uhr sagt uns, es sey nicht, wie wir meinten, eine ganze, sondern nur eine halbe Stunde verflossen. Dagegen, wenn ein Ge- spräch so fortläuft, daſs sein Anfangspunct uns während der ganzen Zeit mit allem, was hinzukommt, wohl ver- schmelzend noch gegenwärtig bleibt am Ende: dann täu- schen wir uns auf entgegengesetzte Weise; wir haben Mühe, zu glauben, daſs schon soviel Zeit verlaufen sey. Um dies zu erklären: erinnere man sich an die Eigen- thümlichkeit der rückwärts gerichteten Reproduction. In der Reihe a, b, c, d, e, stehe man am Ende bey e. Diese letzte Vorstellung ruft die vorhergehenden jedesmal simultan zurück; aber abgestuft; so weit die Verschmel- zung reicht. Waren damals, als e eintrat, a und b schon ganz gesunken: so kann jenes nur d, und minder c her- vorrufen. Indem, hiedurch freyer von der Hemmung, sich nun durch eigne Kraft c höher hebt: steigen allmählig auch a und b. Aber eben diese Vorstellungen konnten auch unmittelbar von e hervor gehoben werden, wenn nur damals, als die Reihe sich bildete, a und b noch im Bewuſstseyn gegenwärtig blieben, indem e hinzutrat. Ueberdies fällt die Abstufung verschieden aus, je nach- dem die Reihe in ihrem Entstehen sich zusammenfügt. Wäre das ganze a, das ganze b, und so ferner, völlig ungehemmt gewesen, als e, das letzte Glied, hinzukam: so würde gar keine Abstufung in der Reproduction seyn; und e würde die vorigen Glieder gar nicht als ein Ver- gangenes, sondern als ein Gegenwärtiges reproduciren. Dieser Aufhebung der Zeitform nähert sich nun die Re- production um so mehr, je gröſsere Reste der frühern Glieder sich mit den späteren vereinigt haben; die ver-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/192>, abgerufen am 25.04.2024.