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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Zahl n+1 erzeugt wird aus der nächstvorhergehenden
Zahl n, durch Zusetzung der Einheit.

Dem gemäss denkt man sich die Zahlen bestehend
aus Einheiten; allein die Eins selbst weiss man nicht zu
erklären; und wenig fehlt, dass man sie gar für eine an-
geborne Idee halte.

Es ist hier einer von den Fällen, wo eine Verlegen-
heit entsteht, weil man vergisst, zu einem Beziehungsbe-
griff seinen Beziehungspunct aufzusuchen, und diesen als-
dann genau vestzuhalten. Man besinne sich nur zuvör-
derst, dass beym Zählen allemal Etwas vorhanden ist,
welches gezählt wird; und dass die Vorstellung von die-
sem Etwas immer gleichartig bleiben muss, indem be-
kanntlich ungleichartige Dinge, z. B. Federn, Papierbo-
gen, Siegellackstangen, sich nicht zusammenzählen lassen,
es sey denn, dass man sie als gleichartig (durch den
allgemeinen Begriff der Schreibmaterialien) auffasse. Jede
Zahl nun bezicht sich auf solche Weise auf einen allge-
meinen Begriff des Gezählten; dieser Begriff aber kann
ganz unbestimmt bleiben, indem für die Zahlbestimmung
es gänzlich gleichgültig ist, was man zähle. Gleichwohl
muss man die Beziehung auf diesen unbestimmten Be-
griff stets vor Augen behalten, sonst wird man verleitet
zu jener falschen Vorstellungsart, von Einheiten als Be-
standtheilen der Zahlen. Zu der Zahl 12 denke man
hinzu den allgemeinen Begriff eines Stuhls, oder eines
Thalers, so wird man gewahr werden, dass sich die Zahl-
bestimmung ungetheilt, und auf einmal, dem Begriffe an-
schliesst; und dass es unter den zwölf Stühlen nun weder
einen ersten, noch einen zwölften Stuhl giebt, weil der
Gedanke von allen zusammen schlechthin zugleich gefasst
wird. Uebrigens kann man allerdings das Dutzend suc-
cessiv durchzählen, und es besteht alsdann auch aus allen
einzelnen Stühlen; aber die Zahl zwölf besteht darum
doch nicht aus zwölf Einheiten, denn die Einheit würde
auf diese Weise in den Platz des allgemeinen Begriffs
von dem Zählbaren treten, (also das sich Beziehende

II. L

Zahl n+1 erzeugt wird aus der nächstvorhergehenden
Zahl n, durch Zusetzung der Einheit.

Dem gemäſs denkt man sich die Zahlen bestehend
aus Einheiten; allein die Eins selbst weiſs man nicht zu
erklären; und wenig fehlt, daſs man sie gar für eine an-
geborne Idee halte.

Es ist hier einer von den Fällen, wo eine Verlegen-
heit entsteht, weil man vergiſst, zu einem Beziehungsbe-
griff seinen Beziehungspunct aufzusuchen, und diesen als-
dann genau vestzuhalten. Man besinne sich nur zuvör-
derst, daſs beym Zählen allemal Etwas vorhanden ist,
welches gezählt wird; und daſs die Vorstellung von die-
sem Etwas immer gleichartig bleiben muſs, indem be-
kanntlich ungleichartige Dinge, z. B. Federn, Papierbo-
gen, Siegellackstangen, sich nicht zusammenzählen lassen,
es sey denn, daſs man sie als gleichartig (durch den
allgemeinen Begriff der Schreibmaterialien) auffasse. Jede
Zahl nun bezicht sich auf solche Weise auf einen allge-
meinen Begriff des Gezählten; dieser Begriff aber kann
ganz unbestimmt bleiben, indem für die Zahlbestimmung
es gänzlich gleichgültig ist, was man zähle. Gleichwohl
muſs man die Beziehung auf diesen unbestimmten Be-
griff stets vor Augen behalten, sonst wird man verleitet
zu jener falschen Vorstellungsart, von Einheiten als Be-
standtheilen der Zahlen. Zu der Zahl 12 denke man
hinzu den allgemeinen Begriff eines Stuhls, oder eines
Thalers, so wird man gewahr werden, daſs sich die Zahl-
bestimmung ungetheilt, und auf einmal, dem Begriffe an-
schlieſst; und daſs es unter den zwölf Stühlen nun weder
einen ersten, noch einen zwölften Stuhl giebt, weil der
Gedanke von allen zusammen schlechthin zugleich gefaſst
wird. Uebrigens kann man allerdings das Dutzend suc-
cessiv durchzählen, und es besteht alsdann auch aus allen
einzelnen Stühlen; aber die Zahl zwölf besteht darum
doch nicht aus zwölf Einheiten, denn die Einheit würde
auf diese Weise in den Platz des allgemeinen Begriffs
von dem Zählbaren treten, (also das sich Beziehende

II. L
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[161/0196] Zahl n+1 erzeugt wird aus der nächstvorhergehenden Zahl n, durch Zusetzung der Einheit. Dem gemäſs denkt man sich die Zahlen bestehend aus Einheiten; allein die Eins selbst weiſs man nicht zu erklären; und wenig fehlt, daſs man sie gar für eine an- geborne Idee halte. Es ist hier einer von den Fällen, wo eine Verlegen- heit entsteht, weil man vergiſst, zu einem Beziehungsbe- griff seinen Beziehungspunct aufzusuchen, und diesen als- dann genau vestzuhalten. Man besinne sich nur zuvör- derst, daſs beym Zählen allemal Etwas vorhanden ist, welches gezählt wird; und daſs die Vorstellung von die- sem Etwas immer gleichartig bleiben muſs, indem be- kanntlich ungleichartige Dinge, z. B. Federn, Papierbo- gen, Siegellackstangen, sich nicht zusammenzählen lassen, es sey denn, daſs man sie als gleichartig (durch den allgemeinen Begriff der Schreibmaterialien) auffasse. Jede Zahl nun bezicht sich auf solche Weise auf einen allge- meinen Begriff des Gezählten; dieser Begriff aber kann ganz unbestimmt bleiben, indem für die Zahlbestimmung es gänzlich gleichgültig ist, was man zähle. Gleichwohl muſs man die Beziehung auf diesen unbestimmten Be- griff stets vor Augen behalten, sonst wird man verleitet zu jener falschen Vorstellungsart, von Einheiten als Be- standtheilen der Zahlen. Zu der Zahl 12 denke man hinzu den allgemeinen Begriff eines Stuhls, oder eines Thalers, so wird man gewahr werden, daſs sich die Zahl- bestimmung ungetheilt, und auf einmal, dem Begriffe an- schlieſst; und daſs es unter den zwölf Stühlen nun weder einen ersten, noch einen zwölften Stuhl giebt, weil der Gedanke von allen zusammen schlechthin zugleich gefaſst wird. Uebrigens kann man allerdings das Dutzend suc- cessiv durchzählen, und es besteht alsdann auch aus allen einzelnen Stühlen; aber die Zahl zwölf besteht darum doch nicht aus zwölf Einheiten, denn die Einheit würde auf diese Weise in den Platz des allgemeinen Begriffs von dem Zählbaren treten, (also das sich Beziehende II. L

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/196>, abgerufen am 28.03.2024.