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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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entstehen Ganze und Theile; so bleibt, in unserer
Vorstellung, der Baum im Walde, und der Wald in
der Landschaft. -- Ganz auf die nämliche Weise geht es
mit denjenigen Associationen, worauf die Erwartung
ähnlicher Fälle
beruht. Diese verknüpft eben so gut
für den Wahrsager das Zeichen mit dem vorbedeuteten
Erfolge, als für den Physiker die Wirkung mit der Ur-
sache. Ursprünglich ist jedes Vorhergehende
ein Vorzeichen
, lediglich darum, (und ohne alle andre
Bedeutung, als) weil die Vorstellung desselben
mit der des nachfolgenden in Ein Bewusstseyn
zusammenkommt und verschmilzt
. Bey fortgehen-
der Erfahrung aber zerreisst auch hier das Band an gar
vielen Stellen; Vorstellungsfolgen von entgegengesetztem
Ausgange bey gleichem Anfange müssen in der Wahr-
nehmung sich bilden und in der Seele sich hemmen; da-
gegen verstärken einander die vielemal wiederhohlten
gleichartigen Vorstellungsfolgen, und machen die Grund-
lage der gemeinen Lebensklugheit.

Soll nun dergleichen Synthesis den Hauptcharakter
des Verstandes bestimmen, so giebt es in der ganzen
Psychologie kaum etwas, das sich so sehr von selbst
verstünde als der Verstand. Auch ist alsdann das Fun-
dament der Lehre vom Verstande enthalten in den Ca-
piteln der Statik des Geistes, die von Complicationen
und Verschmelzungen handeln; und bey denen wir uns
schon auf die Einheit der Seele, als auf den für sich
vollständigen und zulänglichen Erklärungsgrund der Ver-
bindung, gestützt haben. Soll aber der Verstand sich als
Eigenthümer der Begriffe von Substanz und Ursache zei-
gen, so werden wir einen solchen wohl als etwas aus-
schliessend menschliches betrachten, und demnach für
jetzt noch zur Seite lassen müssen. Denn eine Substanz
ist etwas ganz anderes als ein sinnliches Ding, das heisst,
als eine Complexion von Merkmalen, bey der noch nach
keinem Prineip der Einheit gefragt ist, weil das Ding
ohne Weiteres für Eins gegolten hat. Eben so, eine

entstehen Ganze und Theile; so bleibt, in unserer
Vorstellung, der Baum im Walde, und der Wald in
der Landschaft. — Ganz auf die nämliche Weise geht es
mit denjenigen Associationen, worauf die Erwartung
ähnlicher Fälle
beruht. Diese verknüpft eben so gut
für den Wahrsager das Zeichen mit dem vorbedeuteten
Erfolge, als für den Physiker die Wirkung mit der Ur-
sache. Ursprünglich ist jedes Vorhergehende
ein Vorzeichen
, lediglich darum, (und ohne alle andre
Bedeutung, als) weil die Vorstellung desselben
mit der des nachfolgenden in Ein Bewuſstseyn
zusammenkommt und verschmilzt
. Bey fortgehen-
der Erfahrung aber zerreiſst auch hier das Band an gar
vielen Stellen; Vorstellungsfolgen von entgegengesetztem
Ausgange bey gleichem Anfange müssen in der Wahr-
nehmung sich bilden und in der Seele sich hemmen; da-
gegen verstärken einander die vielemal wiederhohlten
gleichartigen Vorstellungsfolgen, und machen die Grund-
lage der gemeinen Lebensklugheit.

Soll nun dergleichen Synthesis den Hauptcharakter
des Verstandes bestimmen, so giebt es in der ganzen
Psychologie kaum etwas, das sich so sehr von selbst
verstünde als der Verstand. Auch ist alsdann das Fun-
dament der Lehre vom Verstande enthalten in den Ca-
piteln der Statik des Geistes, die von Complicationen
und Verschmelzungen handeln; und bey denen wir uns
schon auf die Einheit der Seele, als auf den für sich
vollständigen und zulänglichen Erklärungsgrund der Ver-
bindung, gestützt haben. Soll aber der Verstand sich als
Eigenthümer der Begriffe von Substanz und Ursache zei-
gen, so werden wir einen solchen wohl als etwas aus-
schlieſsend menschliches betrachten, und demnach für
jetzt noch zur Seite lassen müssen. Denn eine Substanz
ist etwas ganz anderes als ein sinnliches Ding, das heiſst,
als eine Complexion von Merkmalen, bey der noch nach
keinem Prineip der Einheit gefragt ist, weil das Ding
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[169/0204] entstehen Ganze und Theile; so bleibt, in unserer Vorstellung, der Baum im Walde, und der Wald in der Landschaft. — Ganz auf die nämliche Weise geht es mit denjenigen Associationen, worauf die Erwartung ähnlicher Fälle beruht. Diese verknüpft eben so gut für den Wahrsager das Zeichen mit dem vorbedeuteten Erfolge, als für den Physiker die Wirkung mit der Ur- sache. Ursprünglich ist jedes Vorhergehende ein Vorzeichen, lediglich darum, (und ohne alle andre Bedeutung, als) weil die Vorstellung desselben mit der des nachfolgenden in Ein Bewuſstseyn zusammenkommt und verschmilzt. Bey fortgehen- der Erfahrung aber zerreiſst auch hier das Band an gar vielen Stellen; Vorstellungsfolgen von entgegengesetztem Ausgange bey gleichem Anfange müssen in der Wahr- nehmung sich bilden und in der Seele sich hemmen; da- gegen verstärken einander die vielemal wiederhohlten gleichartigen Vorstellungsfolgen, und machen die Grund- lage der gemeinen Lebensklugheit. Soll nun dergleichen Synthesis den Hauptcharakter des Verstandes bestimmen, so giebt es in der ganzen Psychologie kaum etwas, das sich so sehr von selbst verstünde als der Verstand. Auch ist alsdann das Fun- dament der Lehre vom Verstande enthalten in den Ca- piteln der Statik des Geistes, die von Complicationen und Verschmelzungen handeln; und bey denen wir uns schon auf die Einheit der Seele, als auf den für sich vollständigen und zulänglichen Erklärungsgrund der Ver- bindung, gestützt haben. Soll aber der Verstand sich als Eigenthümer der Begriffe von Substanz und Ursache zei- gen, so werden wir einen solchen wohl als etwas aus- schlieſsend menschliches betrachten, und demnach für jetzt noch zur Seite lassen müssen. Denn eine Substanz ist etwas ganz anderes als ein sinnliches Ding, das heiſst, als eine Complexion von Merkmalen, bey der noch nach keinem Prineip der Einheit gefragt ist, weil das Ding ohne Weiteres für Eins gegolten hat. Eben so, eine

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/204>, abgerufen am 28.03.2024.